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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.

Auch die Theile der Schaam haben ihre besondere Schönheit; unter
den Hoden ist allezeit der linke größer, wie es sich in der Natur findet:
so wie man bemerket hat, daß das linke Auge schärfer sieht, als das rechte 1).

Die Knie sind an jugendlichen Figuren nach der Wahrheit der schö-
nen Natur gebildet, welche dieselben nicht mit sichtbaren Knorpeln zerglie-
dert, sondern sanft und einfach platt gewölbet, und ohne Regung der
Muskeln zeiget.

Dem Leser und dem Untersucher der Schönheit überlasse ich, die
Münze umzukehren, und besondere Betrachtungen zu machen über die
Theile, welche der Maler dem Anacreon an seinem Geliebten nicht vor-
stellen konnte.

Der Inbegriff aller beschriebenen Schönheiten in den Figuren der
Alten, findet sich in den unsterblichen Werken Herrn Anton Raphael
Mengs
, ersten Hofmalers der Könige von Spanien und von Pohlen, des
größten Künstlers seiner, und vielleicht auch der folgenden Zeit. Er ist
als ein Phoenix gleichsam aus der Asche des ersten Raphaels erwecket wor-
den, um der Welt in der Kunst die Schönheit zu lehren, und den höchsten
Flug Menschlicher Kräfte in derselben zu erreichen. Nachdem die Deutsche
Nation stolz seyn konnte über einen Mann, der zu unserer Väter Zeiten
die Weisen erleuchtet, und Saamen von allgemeiner Wissenschaft unter
allen Völkern ausgestreuet, so fehlete noch an dem Ruhme der Deutschen,
einen Wiederhersteller der Kunst aus ihrem Mittel aufzuzeigen, und den
deutschen Raphael in Rom selbst, dem Sitze der Künste, dafür erkannt
und bewundert zu sehen.

ee Allgemei-
ne Erinnerung
über diese Ab-
handlung.

Ich füge dieser Betrachtung über die Schönheit eine Erinnerung bey,
welche jungen Anfängern und Reisenden die erste und vornehmste Lehre in
Betrachtung Griechischer Figuren seyn kann. Suche nicht die Mängel

und
1) Philosoph. Transact. Vol. 3. p. 730. Denis memoir. p. 213.
I Theil. Viertes Capitel.

Auch die Theile der Schaam haben ihre beſondere Schoͤnheit; unter
den Hoden iſt allezeit der linke groͤßer, wie es ſich in der Natur findet:
ſo wie man bemerket hat, daß das linke Auge ſchaͤrfer ſieht, als das rechte 1).

Die Knie ſind an jugendlichen Figuren nach der Wahrheit der ſchoͤ-
nen Natur gebildet, welche dieſelben nicht mit ſichtbaren Knorpeln zerglie-
dert, ſondern ſanft und einfach platt gewoͤlbet, und ohne Regung der
Muskeln zeiget.

Dem Leſer und dem Unterſucher der Schoͤnheit uͤberlaſſe ich, die
Muͤnze umzukehren, und beſondere Betrachtungen zu machen uͤber die
Theile, welche der Maler dem Anacreon an ſeinem Geliebten nicht vor-
ſtellen konnte.

Der Inbegriff aller beſchriebenen Schoͤnheiten in den Figuren der
Alten, findet ſich in den unſterblichen Werken Herrn Anton Raphael
Mengs
, erſten Hofmalers der Koͤnige von Spanien und von Pohlen, des
groͤßten Kuͤnſtlers ſeiner, und vielleicht auch der folgenden Zeit. Er iſt
als ein Phoenix gleichſam aus der Aſche des erſten Raphaels erwecket wor-
den, um der Welt in der Kunſt die Schoͤnheit zu lehren, und den hoͤchſten
Flug Menſchlicher Kraͤfte in derſelben zu erreichen. Nachdem die Deutſche
Nation ſtolz ſeyn konnte uͤber einen Mann, der zu unſerer Vaͤter Zeiten
die Weiſen erleuchtet, und Saamen von allgemeiner Wiſſenſchaft unter
allen Voͤlkern ausgeſtreuet, ſo fehlete noch an dem Ruhme der Deutſchen,
einen Wiederherſteller der Kunſt aus ihrem Mittel aufzuzeigen, und den
deutſchen Raphael in Rom ſelbſt, dem Sitze der Kuͤnſte, dafuͤr erkannt
und bewundert zu ſehen.

ee Allgemei-
ne Erinnerung
uͤber dieſe Ab-
handlung.

Ich fuͤge dieſer Betrachtung uͤber die Schoͤnheit eine Erinnerung bey,
welche jungen Anfaͤngern und Reiſenden die erſte und vornehmſte Lehre in
Betrachtung Griechiſcher Figuren ſeyn kann. Suche nicht die Maͤngel

und
1) Philoſoph. Transact. Vol. 3. p. 730. Denis memoir. p. 213.
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[184/0234] I Theil. Viertes Capitel. Auch die Theile der Schaam haben ihre beſondere Schoͤnheit; unter den Hoden iſt allezeit der linke groͤßer, wie es ſich in der Natur findet: ſo wie man bemerket hat, daß das linke Auge ſchaͤrfer ſieht, als das rechte 1). Die Knie ſind an jugendlichen Figuren nach der Wahrheit der ſchoͤ- nen Natur gebildet, welche dieſelben nicht mit ſichtbaren Knorpeln zerglie- dert, ſondern ſanft und einfach platt gewoͤlbet, und ohne Regung der Muskeln zeiget. Dem Leſer und dem Unterſucher der Schoͤnheit uͤberlaſſe ich, die Muͤnze umzukehren, und beſondere Betrachtungen zu machen uͤber die Theile, welche der Maler dem Anacreon an ſeinem Geliebten nicht vor- ſtellen konnte. Der Inbegriff aller beſchriebenen Schoͤnheiten in den Figuren der Alten, findet ſich in den unſterblichen Werken Herrn Anton Raphael Mengs, erſten Hofmalers der Koͤnige von Spanien und von Pohlen, des groͤßten Kuͤnſtlers ſeiner, und vielleicht auch der folgenden Zeit. Er iſt als ein Phoenix gleichſam aus der Aſche des erſten Raphaels erwecket wor- den, um der Welt in der Kunſt die Schoͤnheit zu lehren, und den hoͤchſten Flug Menſchlicher Kraͤfte in derſelben zu erreichen. Nachdem die Deutſche Nation ſtolz ſeyn konnte uͤber einen Mann, der zu unſerer Vaͤter Zeiten die Weiſen erleuchtet, und Saamen von allgemeiner Wiſſenſchaft unter allen Voͤlkern ausgeſtreuet, ſo fehlete noch an dem Ruhme der Deutſchen, einen Wiederherſteller der Kunſt aus ihrem Mittel aufzuzeigen, und den deutſchen Raphael in Rom ſelbſt, dem Sitze der Kuͤnſte, dafuͤr erkannt und bewundert zu ſehen. Ich fuͤge dieſer Betrachtung uͤber die Schoͤnheit eine Erinnerung bey, welche jungen Anfaͤngern und Reiſenden die erſte und vornehmſte Lehre in Betrachtung Griechiſcher Figuren ſeyn kann. Suche nicht die Maͤngel und 1) Philoſoph. Transact. Vol. 3. p. 730. Denis memoir. p. 213.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 184. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/234>, abgerufen am 29.03.2024.