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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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I Theil. Viertes Capitel.
Schreibart des Namens setzet diesen Hejus in die ältern Zeiten. Ein Glied,
welches sich erhebet, und von welchem ein freyes Gewand von beyden Sei-
ten herunter fällt, ist allezeit, wie in der Natur, ohne Falten, welche sich
dahin senken, wo eine Hohlung ist. Vielfältig verworrene Brüche, die
von den mehresten neueren Bildhauern, auch Malern gesuchet werden, wur-
den bey den Alten für keine Schönheit gehalten: an hingeworfenen Ge-
wändern aber, wie das am Laocoon ist, und ein anderes über eine Vase
geworfen, von der Hand eines Erato 1), in der Villa Albani, sieht man
Falten auf mancherley Weise gebrochen.

b Von dem
Schmucke
insbesondere.
aa des Kopfs.

Zur Kleidung gehöret der übrige Schmack, des Kopfs, der Arme,
und der Anzug der Füße. Von dem Haarputze der älteren Griechischen
Figuren ist kaum zu reden: denn die Haare sind selten in Locken geleget,
wie an Römischen Köpfen; und an Griechischen Weiblichen Köpfen sind
die Haare allezeit noch einfältiger, als an ihren Männlichen Köpfen. An
den Figuren des höchsten Stils sind die Haare ganz platt über den Kopf
gekämmet, mit Andeutung Schlangenweis fein gezogener Furchen, und
bey Mädgens sind sie auf dem Wirbel 2) zusammen gebunden 3), oder
um sich selbst in einen Knauf, vermittelst einer Nestnadel 4), herumgewickelt,
welche aber an ihren Figuren nicht sichtbar gemalt ist. Eine einzige Rö-
mische Figur findet sich beym Montfaucon 5), an deren Kopfe man die-
selbe sieht; es ist aber keine Nadel, die Haare ordentlich in Locken zu legen,
(Acus discriminalis) wie dieser Gelehrte meynet. Bey Weibern liegt
dieser Knauf gegen das Hintertheil des Kopfs zu; und mit einer solchen

Ein-
1) Cf. Descr. des Pier. gr. du Cab. de Stosch, p. 167.
2) Pausan. L. 8. p. 638. l. 22. L. 10. p. 862. l. 4
3) Auf einer sehr seltenen silbernen Münze der Stadt Taranto sitzet Taras, der Sohn des
Neptunus, wie auf den mehresten, zu Pferde; das besondere aber sind die Haare des-
selben auf dem Wirbel in einen Schopf, wie bey den Mädgens, gebunden, so daß da-
durch das Geschlecht zweydeutig würde, wenn der Künstler dieses nicht deutlich an sei-
nem Orte sehen lassen. Unter dem Pferde sieht man eine alte Tragische Larve.
4) Pausan. L. 1. p. 51. l. 26.
5) Ant- expl. Suppl. T. 3. pl. 4.

I Theil. Viertes Capitel.
Schreibart des Namens ſetzet dieſen Hejus in die aͤltern Zeiten. Ein Glied,
welches ſich erhebet, und von welchem ein freyes Gewand von beyden Sei-
ten herunter faͤllt, iſt allezeit, wie in der Natur, ohne Falten, welche ſich
dahin ſenken, wo eine Hohlung iſt. Vielfaͤltig verworrene Bruͤche, die
von den mehreſten neueren Bildhauern, auch Malern geſuchet werden, wur-
den bey den Alten fuͤr keine Schoͤnheit gehalten: an hingeworfenen Ge-
waͤndern aber, wie das am Laocoon iſt, und ein anderes uͤber eine Vaſe
geworfen, von der Hand eines Erato 1), in der Villa Albani, ſieht man
Falten auf mancherley Weiſe gebrochen.

b Von dem
Schmucke
insbeſondere.
aa des Kopfs.

Zur Kleidung gehoͤret der uͤbrige Schmack, des Kopfs, der Arme,
und der Anzug der Fuͤße. Von dem Haarputze der aͤlteren Griechiſchen
Figuren iſt kaum zu reden: denn die Haare ſind ſelten in Locken geleget,
wie an Roͤmiſchen Koͤpfen; und an Griechiſchen Weiblichen Koͤpfen ſind
die Haare allezeit noch einfaͤltiger, als an ihren Maͤnnlichen Koͤpfen. An
den Figuren des hoͤchſten Stils ſind die Haare ganz platt uͤber den Kopf
gekaͤmmet, mit Andeutung Schlangenweis fein gezogener Furchen, und
bey Maͤdgens ſind ſie auf dem Wirbel 2) zuſammen gebunden 3), oder
um ſich ſelbſt in einen Knauf, vermittelſt einer Neſtnadel 4), herumgewickelt,
welche aber an ihren Figuren nicht ſichtbar gemalt iſt. Eine einzige Roͤ-
miſche Figur findet ſich beym Montfaucon 5), an deren Kopfe man die-
ſelbe ſieht; es iſt aber keine Nadel, die Haare ordentlich in Locken zu legen,
(Acus diſcriminalis) wie dieſer Gelehrte meynet. Bey Weibern liegt
dieſer Knauf gegen das Hintertheil des Kopfs zu; und mit einer ſolchen

Ein-
1) Cf. Deſcr. des Pier. gr. du Cab. de Stoſch, p. 167.
2) Pauſan. L. 8. p. 638. l. 22. L. 10. p. 862. l. 4
3) Auf einer ſehr ſeltenen ſilbernen Muͤnze der Stadt Taranto ſitzet Taras, der Sohn des
Neptunus, wie auf den mehreſten, zu Pferde; das beſondere aber ſind die Haare deſ-
ſelben auf dem Wirbel in einen Schopf, wie bey den Maͤdgens, gebunden, ſo daß da-
durch das Geſchlecht zweydeutig wuͤrde, wenn der Kuͤnſtler dieſes nicht deutlich an ſei-
nem Orte ſehen laſſen. Unter dem Pferde ſieht man eine alte Tragiſche Larve.
4) Pauſan. L. 1. p. 51. l. 26.
5) Ant- expl. Suppl. T. 3. pl. 4.
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[206/0256] I Theil. Viertes Capitel. Schreibart des Namens ſetzet dieſen Hejus in die aͤltern Zeiten. Ein Glied, welches ſich erhebet, und von welchem ein freyes Gewand von beyden Sei- ten herunter faͤllt, iſt allezeit, wie in der Natur, ohne Falten, welche ſich dahin ſenken, wo eine Hohlung iſt. Vielfaͤltig verworrene Bruͤche, die von den mehreſten neueren Bildhauern, auch Malern geſuchet werden, wur- den bey den Alten fuͤr keine Schoͤnheit gehalten: an hingeworfenen Ge- waͤndern aber, wie das am Laocoon iſt, und ein anderes uͤber eine Vaſe geworfen, von der Hand eines Erato 1), in der Villa Albani, ſieht man Falten auf mancherley Weiſe gebrochen. Zur Kleidung gehoͤret der uͤbrige Schmack, des Kopfs, der Arme, und der Anzug der Fuͤße. Von dem Haarputze der aͤlteren Griechiſchen Figuren iſt kaum zu reden: denn die Haare ſind ſelten in Locken geleget, wie an Roͤmiſchen Koͤpfen; und an Griechiſchen Weiblichen Koͤpfen ſind die Haare allezeit noch einfaͤltiger, als an ihren Maͤnnlichen Koͤpfen. An den Figuren des hoͤchſten Stils ſind die Haare ganz platt uͤber den Kopf gekaͤmmet, mit Andeutung Schlangenweis fein gezogener Furchen, und bey Maͤdgens ſind ſie auf dem Wirbel 2) zuſammen gebunden 3), oder um ſich ſelbſt in einen Knauf, vermittelſt einer Neſtnadel 4), herumgewickelt, welche aber an ihren Figuren nicht ſichtbar gemalt iſt. Eine einzige Roͤ- miſche Figur findet ſich beym Montfaucon 5), an deren Kopfe man die- ſelbe ſieht; es iſt aber keine Nadel, die Haare ordentlich in Locken zu legen, (Acus diſcriminalis) wie dieſer Gelehrte meynet. Bey Weibern liegt dieſer Knauf gegen das Hintertheil des Kopfs zu; und mit einer ſolchen Ein- 1) Cf. Deſcr. des Pier. gr. du Cab. de Stoſch, p. 167. 2) Pauſan. L. 8. p. 638. l. 22. L. 10. p. 862. l. 4 3) Auf einer ſehr ſeltenen ſilbernen Muͤnze der Stadt Taranto ſitzet Taras, der Sohn des Neptunus, wie auf den mehreſten, zu Pferde; das beſondere aber ſind die Haare deſ- ſelben auf dem Wirbel in einen Schopf, wie bey den Maͤdgens, gebunden, ſo daß da- durch das Geſchlecht zweydeutig wuͤrde, wenn der Kuͤnſtler dieſes nicht deutlich an ſei- nem Orte ſehen laſſen. Unter dem Pferde ſieht man eine alte Tragiſche Larve. 4) Pauſan. L. 1. p. 51. l. 26. 5) Ant- expl. Suppl. T. 3. pl. 4.

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/256>, abgerufen am 18.04.2024.