Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

I Theil. Viertes Capitel.
verhüllete sich mit züchtiger Schaam in Stirn und Augen, und spielete
mit ungesuchter Zierde in dem Wurfe ihrer Kleidung. Durch dieselbe
wagete sich der Meister der Niobe in das Reich unkörperlicher Ideen, und
erreichte das Geheimniß, die Todesangst mit der höchsten Schönheit zu ver-
einigen: er wurde ein Schöpfer reiner Geister und himmlischer Seelen,
die keine Begierden der Sinne erwecken, sondern eine anschauliche Betrach-
tung aller Schönheit wirken: denn sie scheinen nicht zur Leidenschaft ge-
bildet zu seyn, sondern dieselbe nur angenommen zu haben.

Die Künstler des schönen Stils geselleten mit der ersten und höchsten
Gratie die zwote, und so wie des Homerus Juno den Gürtel der Venus
nahm, um dem Jupiter gefälliger und liebenswürdiger zu erscheinen, so
suchten diese Meister die hohe Schönheit mit einem sinnlichern Reize zu be-
gleiten, und die Großheit durch eine zuvorkommende Gefälligkeit gleichsam
geselliger zu machen. Diese gefälligere Gratie wurde zuerst in der Malerey
erzeuget, und durch diese der Bildhauerey mitgetheilet. Parrhasius,
der Meister, ist durch dieselbe unsterblich, und der erste, dem sie sich geof-
fenbaret hat; und einige Zeit nachher erschien sie auch in Marmor und in
Erzte. Denn von dem Parrhasius, welcher mit dem Phidias zu gleicher
Zeit lebte, bis auf den Praxiteles, dessen Werke sich, so viel man weis,
durch eine besondere Gratie 1) von denen, welche vor ihm gearbeitet wor-
den, unterschieden, ist ein Zwischenraum von einem halben Jahrhunderte.

Es ist merkwürdig, daß der Vater dieser Gratie in der Kunst, und
Apelles 2), welchen sich dieselbe völlig eigen gemacht hat, und der eigent-
liche Maler derselben kann genennet werden, so wie er dieselbe insbesondere
allein, ohne ihre zwo Gespiellinnen gemalet 3), unter dem wollüstigen Joni-
schen Himmel, und in dem Lande geboren sind, wo der Vater der Dichter

einige
1) Lucian. Imag. p. 463. seq.
2) Plin. l. 35. c. 6. n. 10.
3) Pausan. p. 781. l. ult.

I Theil. Viertes Capitel.
verhuͤllete ſich mit zuͤchtiger Schaam in Stirn und Augen, und ſpielete
mit ungeſuchter Zierde in dem Wurfe ihrer Kleidung. Durch dieſelbe
wagete ſich der Meiſter der Niobe in das Reich unkoͤrperlicher Ideen, und
erreichte das Geheimniß, die Todesangſt mit der hoͤchſten Schoͤnheit zu ver-
einigen: er wurde ein Schoͤpfer reiner Geiſter und himmliſcher Seelen,
die keine Begierden der Sinne erwecken, ſondern eine anſchauliche Betrach-
tung aller Schoͤnheit wirken: denn ſie ſcheinen nicht zur Leidenſchaft ge-
bildet zu ſeyn, ſondern dieſelbe nur angenommen zu haben.

Die Kuͤnſtler des ſchoͤnen Stils geſelleten mit der erſten und hoͤchſten
Gratie die zwote, und ſo wie des Homerus Juno den Guͤrtel der Venus
nahm, um dem Jupiter gefaͤlliger und liebenswuͤrdiger zu erſcheinen, ſo
ſuchten dieſe Meiſter die hohe Schoͤnheit mit einem ſinnlichern Reize zu be-
gleiten, und die Großheit durch eine zuvorkommende Gefaͤlligkeit gleichſam
geſelliger zu machen. Dieſe gefaͤlligere Gratie wurde zuerſt in der Malerey
erzeuget, und durch dieſe der Bildhauerey mitgetheilet. Parrhaſius,
der Meiſter, iſt durch dieſelbe unſterblich, und der erſte, dem ſie ſich geof-
fenbaret hat; und einige Zeit nachher erſchien ſie auch in Marmor und in
Erzte. Denn von dem Parrhaſius, welcher mit dem Phidias zu gleicher
Zeit lebte, bis auf den Praxiteles, deſſen Werke ſich, ſo viel man weis,
durch eine beſondere Gratie 1) von denen, welche vor ihm gearbeitet wor-
den, unterſchieden, iſt ein Zwiſchenraum von einem halben Jahrhunderte.

Es iſt merkwuͤrdig, daß der Vater dieſer Gratie in der Kunſt, und
Apelles 2), welchen ſich dieſelbe voͤllig eigen gemacht hat, und der eigent-
liche Maler derſelben kann genennet werden, ſo wie er dieſelbe insbeſondere
allein, ohne ihre zwo Geſpiellinnen gemalet 3), unter dem wolluͤſtigen Joni-
ſchen Himmel, und in dem Lande geboren ſind, wo der Vater der Dichter

einige
1) Lucian. Imag. p. 463. ſeq.
2) Plin. l. 35. c. 6. n. 10.
3) Pauſan. p. 781. l. ult.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0282" n="232"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">I</hi> Theil. Viertes Capitel.</hi></fw><lb/>
verhu&#x0364;llete &#x017F;ich mit zu&#x0364;chtiger Schaam in Stirn und Augen, und &#x017F;pielete<lb/>
mit unge&#x017F;uchter Zierde in dem Wurfe ihrer Kleidung. Durch die&#x017F;elbe<lb/>
wagete &#x017F;ich der Mei&#x017F;ter der Niobe in das Reich unko&#x0364;rperlicher Ideen, und<lb/>
erreichte das Geheimniß, die Todesang&#x017F;t mit der ho&#x0364;ch&#x017F;ten Scho&#x0364;nheit zu ver-<lb/>
einigen: er wurde ein Scho&#x0364;pfer reiner Gei&#x017F;ter und himmli&#x017F;cher Seelen,<lb/>
die keine Begierden der Sinne erwecken, &#x017F;ondern eine an&#x017F;chauliche Betrach-<lb/>
tung aller Scho&#x0364;nheit wirken: denn &#x017F;ie &#x017F;cheinen nicht zur Leiden&#x017F;chaft ge-<lb/>
bildet zu &#x017F;eyn, &#x017F;ondern die&#x017F;elbe nur angenommen zu haben.</p><lb/>
              <p>Die Ku&#x0364;n&#x017F;tler des &#x017F;cho&#x0364;nen Stils ge&#x017F;elleten mit der er&#x017F;ten und ho&#x0364;ch&#x017F;ten<lb/>
Gratie die zwote, und &#x017F;o wie des Homerus Juno den Gu&#x0364;rtel der Venus<lb/>
nahm, um dem Jupiter gefa&#x0364;lliger und liebenswu&#x0364;rdiger zu er&#x017F;cheinen, &#x017F;o<lb/>
&#x017F;uchten die&#x017F;e Mei&#x017F;ter die hohe Scho&#x0364;nheit mit einem &#x017F;innlichern Reize zu be-<lb/>
gleiten, und die Großheit durch eine zuvorkommende Gefa&#x0364;lligkeit gleich&#x017F;am<lb/>
ge&#x017F;elliger zu machen. Die&#x017F;e gefa&#x0364;lligere Gratie wurde zuer&#x017F;t in der Malerey<lb/>
erzeuget, und durch die&#x017F;e der Bildhauerey mitgetheilet. <hi rendition="#fr">Parrha&#x017F;ius,</hi><lb/>
der Mei&#x017F;ter, i&#x017F;t durch die&#x017F;elbe un&#x017F;terblich, und der er&#x017F;te, dem &#x017F;ie &#x017F;ich geof-<lb/>
fenbaret hat; und einige Zeit nachher er&#x017F;chien &#x017F;ie auch in Marmor und in<lb/>
Erzte. Denn von dem Parrha&#x017F;ius, welcher mit dem Phidias zu gleicher<lb/>
Zeit lebte, bis auf den Praxiteles, de&#x017F;&#x017F;en Werke &#x017F;ich, &#x017F;o viel man weis,<lb/>
durch eine be&#x017F;ondere Gratie <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#aq">Lucian. Imag. p. 463. &#x017F;eq.</hi></note> von denen, welche vor ihm gearbeitet wor-<lb/>
den, unter&#x017F;chieden, i&#x017F;t ein Zwi&#x017F;chenraum von einem halben Jahrhunderte.</p><lb/>
              <p>Es i&#x017F;t merkwu&#x0364;rdig, daß der Vater die&#x017F;er Gratie in der Kun&#x017F;t, und<lb/>
Apelles <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#aq">Plin. l. 35. c. 6. n.</hi> 10.</note>, welchen &#x017F;ich die&#x017F;elbe vo&#x0364;llig eigen gemacht hat, und der eigent-<lb/>
liche Maler der&#x017F;elben kann genennet werden, &#x017F;o wie er die&#x017F;elbe insbe&#x017F;ondere<lb/>
allein, ohne ihre zwo Ge&#x017F;piellinnen gemalet <note place="foot" n="3)"><hi rendition="#aq">Pau&#x017F;an. p. 781. l. ult.</hi></note>, unter dem wollu&#x0364;&#x017F;tigen Joni-<lb/>
&#x017F;chen Himmel, und in dem Lande geboren &#x017F;ind, wo der Vater der Dichter<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">einige</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[232/0282] I Theil. Viertes Capitel. verhuͤllete ſich mit zuͤchtiger Schaam in Stirn und Augen, und ſpielete mit ungeſuchter Zierde in dem Wurfe ihrer Kleidung. Durch dieſelbe wagete ſich der Meiſter der Niobe in das Reich unkoͤrperlicher Ideen, und erreichte das Geheimniß, die Todesangſt mit der hoͤchſten Schoͤnheit zu ver- einigen: er wurde ein Schoͤpfer reiner Geiſter und himmliſcher Seelen, die keine Begierden der Sinne erwecken, ſondern eine anſchauliche Betrach- tung aller Schoͤnheit wirken: denn ſie ſcheinen nicht zur Leidenſchaft ge- bildet zu ſeyn, ſondern dieſelbe nur angenommen zu haben. Die Kuͤnſtler des ſchoͤnen Stils geſelleten mit der erſten und hoͤchſten Gratie die zwote, und ſo wie des Homerus Juno den Guͤrtel der Venus nahm, um dem Jupiter gefaͤlliger und liebenswuͤrdiger zu erſcheinen, ſo ſuchten dieſe Meiſter die hohe Schoͤnheit mit einem ſinnlichern Reize zu be- gleiten, und die Großheit durch eine zuvorkommende Gefaͤlligkeit gleichſam geſelliger zu machen. Dieſe gefaͤlligere Gratie wurde zuerſt in der Malerey erzeuget, und durch dieſe der Bildhauerey mitgetheilet. Parrhaſius, der Meiſter, iſt durch dieſelbe unſterblich, und der erſte, dem ſie ſich geof- fenbaret hat; und einige Zeit nachher erſchien ſie auch in Marmor und in Erzte. Denn von dem Parrhaſius, welcher mit dem Phidias zu gleicher Zeit lebte, bis auf den Praxiteles, deſſen Werke ſich, ſo viel man weis, durch eine beſondere Gratie 1) von denen, welche vor ihm gearbeitet wor- den, unterſchieden, iſt ein Zwiſchenraum von einem halben Jahrhunderte. Es iſt merkwuͤrdig, daß der Vater dieſer Gratie in der Kunſt, und Apelles 2), welchen ſich dieſelbe voͤllig eigen gemacht hat, und der eigent- liche Maler derſelben kann genennet werden, ſo wie er dieſelbe insbeſondere allein, ohne ihre zwo Geſpiellinnen gemalet 3), unter dem wolluͤſtigen Joni- ſchen Himmel, und in dem Lande geboren ſind, wo der Vater der Dichter einige 1) Lucian. Imag. p. 463. ſeq. 2) Plin. l. 35. c. 6. n. 10. 3) Pauſan. p. 781. l. ult.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/282
Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 232. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/282>, abgerufen am 19.04.2024.