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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764.

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Von der Kunst unter den Griechen.
einige hundert Jahre vorher mit der höchsten Gratie begabet worden war:
denn Ephesus war das Vaterland des Parrhasius und des Apelles. Mit
einer zärtlichen Empfindung begabet, die ein solcher Himmel einflößet, und
von einem Vater, den seine Kunst bekannt gemacht, unterrichtet, kam
Parrhasius nach Athen, und wurde ein Freund des Weisen, des Lehrers
der Gratie, welcher dieselbe dem Plato und Xenophon entdeckete.

Das Mannigfaltige und die mehrere Verschiedenheit des Ausdrucks
that der Harmonie und der Großheit in dem schönen Stile keinen Eintrag:
die Seele äußerte sich nur wie unter einer stillen Fläche des Wassers, und
trat niemals mit Ungestüm hervor. In Vorstellung des Leidens bleibt
die größte Pein verschlossen, wie im Laocoon, und die Freude schwebet
wie eine sanfte Luft, die kaum die Blätter rühret, auf dem Gesichte einer
Bacchante, auf Münzen der Insel Naxus. Die Kunst philosophirte mit
den Leidenschaften, wie Aristoteles von der Vernunft saget.

Hätte sich der hohe Stil der Kunst nicht bis auf die unausgeführteC.
Von der
Kunst in Kin-
dern.

Form junger Kinder herunter gelassen, und hätten die Künstler dieses
Stils, deren vornehmste Betrachtung auf die vollkommenen Gewächse ge-
richtet war, sich in der überflüßigen Fleischigkeit nicht gezeiget, wie wir
gleichwohl nicht wissen, so ist hingegen gewiß, daß ihre Nachfolger im
schönen Stile, da sie das Zärtliche und Gefällige gesuchet, auch die kindliche
Natur einen Vorwurf ihrer Kunst seyn lassen. Aristides, welcher eine
todte Mutter mit ihrem säugenden Kinde an der Brust malete 1), wird
auch ein mit Milch genährtes Kind gemacht haben. Die Liebe ist auf den
ältesten geschnittenen Steinen nicht als ein junges Kind, sondern in der Na-
tur eines Knabens gebildet, wie dieselbe auf einem schönen Steine des
Commendators Vettori zu Rom erscheinet 2). Nach der Form der Buch-
staben in dem Namen des Künstlers, PhRUGILLoS, ist es einer der äl-

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1) Plin. L. 35. c. 36. n. 19.
2) Deser. des Pier. gr. du Cab. de Stosch, p. 137.
Winckelm. Gesch. der Kunst. G g

Von der Kunſt unter den Griechen.
einige hundert Jahre vorher mit der hoͤchſten Gratie begabet worden war:
denn Epheſus war das Vaterland des Parrhaſius und des Apelles. Mit
einer zaͤrtlichen Empfindung begabet, die ein ſolcher Himmel einfloͤßet, und
von einem Vater, den ſeine Kunſt bekannt gemacht, unterrichtet, kam
Parrhaſius nach Athen, und wurde ein Freund des Weiſen, des Lehrers
der Gratie, welcher dieſelbe dem Plato und Xenophon entdeckete.

Das Mannigfaltige und die mehrere Verſchiedenheit des Ausdrucks
that der Harmonie und der Großheit in dem ſchoͤnen Stile keinen Eintrag:
die Seele aͤußerte ſich nur wie unter einer ſtillen Flaͤche des Waſſers, und
trat niemals mit Ungeſtuͤm hervor. In Vorſtellung des Leidens bleibt
die groͤßte Pein verſchloſſen, wie im Laocoon, und die Freude ſchwebet
wie eine ſanfte Luft, die kaum die Blaͤtter ruͤhret, auf dem Geſichte einer
Bacchante, auf Muͤnzen der Inſel Naxus. Die Kunſt philoſophirte mit
den Leidenſchaften, wie Ariſtoteles von der Vernunft ſaget.

Haͤtte ſich der hohe Stil der Kunſt nicht bis auf die unausgefuͤhrteC.
Von der
Kunſt in Kin-
dern.

Form junger Kinder herunter gelaſſen, und haͤtten die Kuͤnſtler dieſes
Stils, deren vornehmſte Betrachtung auf die vollkommenen Gewaͤchſe ge-
richtet war, ſich in der uͤberfluͤßigen Fleiſchigkeit nicht gezeiget, wie wir
gleichwohl nicht wiſſen, ſo iſt hingegen gewiß, daß ihre Nachfolger im
ſchoͤnen Stile, da ſie das Zaͤrtliche und Gefaͤllige geſuchet, auch die kindliche
Natur einen Vorwurf ihrer Kunſt ſeyn laſſen. Ariſtides, welcher eine
todte Mutter mit ihrem ſaͤugenden Kinde an der Bruſt malete 1), wird
auch ein mit Milch genaͤhrtes Kind gemacht haben. Die Liebe iſt auf den
aͤlteſten geſchnittenen Steinen nicht als ein junges Kind, ſondern in der Na-
tur eines Knabens gebildet, wie dieſelbe auf einem ſchoͤnen Steine des
Commendators Vettori zu Rom erſcheinet 2). Nach der Form der Buch-
ſtaben in dem Namen des Kuͤnſtlers, ΦΡϒΓΙΛΛοΣ, iſt es einer der aͤl-

teſten
1) Plin. L. 35. c. 36. n. 19.
2) Deſer. des Pier. gr. du Cab. de Stoſch, p. 137.
Winckelm. Geſch. der Kunſt. G g
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[233/0283] Von der Kunſt unter den Griechen. einige hundert Jahre vorher mit der hoͤchſten Gratie begabet worden war: denn Epheſus war das Vaterland des Parrhaſius und des Apelles. Mit einer zaͤrtlichen Empfindung begabet, die ein ſolcher Himmel einfloͤßet, und von einem Vater, den ſeine Kunſt bekannt gemacht, unterrichtet, kam Parrhaſius nach Athen, und wurde ein Freund des Weiſen, des Lehrers der Gratie, welcher dieſelbe dem Plato und Xenophon entdeckete. Das Mannigfaltige und die mehrere Verſchiedenheit des Ausdrucks that der Harmonie und der Großheit in dem ſchoͤnen Stile keinen Eintrag: die Seele aͤußerte ſich nur wie unter einer ſtillen Flaͤche des Waſſers, und trat niemals mit Ungeſtuͤm hervor. In Vorſtellung des Leidens bleibt die groͤßte Pein verſchloſſen, wie im Laocoon, und die Freude ſchwebet wie eine ſanfte Luft, die kaum die Blaͤtter ruͤhret, auf dem Geſichte einer Bacchante, auf Muͤnzen der Inſel Naxus. Die Kunſt philoſophirte mit den Leidenſchaften, wie Ariſtoteles von der Vernunft ſaget. Haͤtte ſich der hohe Stil der Kunſt nicht bis auf die unausgefuͤhrte Form junger Kinder herunter gelaſſen, und haͤtten die Kuͤnſtler dieſes Stils, deren vornehmſte Betrachtung auf die vollkommenen Gewaͤchſe ge- richtet war, ſich in der uͤberfluͤßigen Fleiſchigkeit nicht gezeiget, wie wir gleichwohl nicht wiſſen, ſo iſt hingegen gewiß, daß ihre Nachfolger im ſchoͤnen Stile, da ſie das Zaͤrtliche und Gefaͤllige geſuchet, auch die kindliche Natur einen Vorwurf ihrer Kunſt ſeyn laſſen. Ariſtides, welcher eine todte Mutter mit ihrem ſaͤugenden Kinde an der Bruſt malete 1), wird auch ein mit Milch genaͤhrtes Kind gemacht haben. Die Liebe iſt auf den aͤlteſten geſchnittenen Steinen nicht als ein junges Kind, ſondern in der Na- tur eines Knabens gebildet, wie dieſelbe auf einem ſchoͤnen Steine des Commendators Vettori zu Rom erſcheinet 2). Nach der Form der Buch- ſtaben in dem Namen des Kuͤnſtlers, ΦΡϒΓΙΛΛοΣ, iſt es einer der aͤl- teſten C. Von der Kunſt in Kin- dern. 1) Plin. L. 35. c. 36. n. 19. 2) Deſer. des Pier. gr. du Cab. de Stoſch, p. 137. Winckelm. Geſch. der Kunſt. G g

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 1. Dresden, 1764, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte01_1764/283>, abgerufen am 25.04.2024.