Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 2. Dresden, 1764.

Bild:
<< vorherige Seite

der Zeit unter den Griechen betrachtet.
Was Cicero sagt, daß die Kunst ein richtigerer Führer, als die Natur,
sey 1), kann auf einer Seite, als richtig, auf der andern, als falsch be-
trachtet werden. Nichts entfernet mehr von der Natur, als ein Lehrge-
bäude, und eine strenge Folge nach demselben, und dieses war zum Theil
mit die Ursache von einiger Härte, welche in den mehresten Werken der
Kunst vor dem Lysippus geblieben war. Dieser Künstler suchte die Natur
selbst nachzuahmen, und folgete seinen Vorgängern nur in so weit sie die-
selbe erreichet, oder sich weislich über dieselbe erhoben hatten 2). Er lebete
zu einer Zeit, in welcher die Griechen die Süßigkeit der Freyheit ohne Bit-
terkeit schmecketen, in einiger Erniedrigung, aber in Eintracht; und die
fast erloschene Eifersucht, welche sie entkräftet hatte, ließ ihnen, wie wenn
ihre Wuth in der Liebe aufhöret, eine stolze Erinnerung der vormaligen
Größe, und die Ruhe übrig, da die Macedonier, die Feinde ihrer Frey-
heit, aus welchem Lande man ehemals nicht einmal einen nützen Leibeige-
nen haben konnte 3), sich über sie erhoben hatten, die sich aber noch begnü-
geten, der Freyheit nur die Waffen genommen zu haben, und ferne von
ihnen Abentheuer und andere Reiche sucheten. Alexander in Persien,E.
Unter Alexan-
der dem Gros-
sen.

und Antipater in Macedonien, waren vergnügt, die Griechen ruhig zu se-
hen, und man gab ihnen nach der Zerstörung der Stadt Theben keine Ur-
sache zum Misvergnügen.

Jn dieser Ruhe überließen sich die Griechen ihrer natürlichen Nei-
gung zum Müßiggange und zu Lustbarkeiten 4): und Sparta selbst gieng
von seiner Strenge ab 5): der Müßiggang füllete die Schulen der Philoso-
phen, die sich vervielfältigten, und sich ein größeres Ansehen gaben; die
Lustbarkeiten beschäftigten Dichter und Künstler, und diese suchten nach

dem
1) de Fin. L. 4. c. 4.
2) Plin. L. 34. c. 19.
3) Demosth. Phil. 3. p. 48. a. l. 23.
4) Aristot. Polit. L. 7. c. 14. p. 209. edit. Wechel.
5) Ibid. p. 208.
Winckelm. Gesch. der Kunst. X x

der Zeit unter den Griechen betrachtet.
Was Cicero ſagt, daß die Kunſt ein richtigerer Fuͤhrer, als die Natur,
ſey 1), kann auf einer Seite, als richtig, auf der andern, als falſch be-
trachtet werden. Nichts entfernet mehr von der Natur, als ein Lehrge-
baͤude, und eine ſtrenge Folge nach demſelben, und dieſes war zum Theil
mit die Urſache von einiger Haͤrte, welche in den mehreſten Werken der
Kunſt vor dem Lyſippus geblieben war. Dieſer Kuͤnſtler ſuchte die Natur
ſelbſt nachzuahmen, und folgete ſeinen Vorgaͤngern nur in ſo weit ſie die-
ſelbe erreichet, oder ſich weislich uͤber dieſelbe erhoben hatten 2). Er lebete
zu einer Zeit, in welcher die Griechen die Suͤßigkeit der Freyheit ohne Bit-
terkeit ſchmecketen, in einiger Erniedrigung, aber in Eintracht; und die
faſt erloſchene Eiferſucht, welche ſie entkraͤftet hatte, ließ ihnen, wie wenn
ihre Wuth in der Liebe aufhoͤret, eine ſtolze Erinnerung der vormaligen
Groͤße, und die Ruhe uͤbrig, da die Macedonier, die Feinde ihrer Frey-
heit, aus welchem Lande man ehemals nicht einmal einen nuͤtzen Leibeige-
nen haben konnte 3), ſich uͤber ſie erhoben hatten, die ſich aber noch begnuͤ-
geten, der Freyheit nur die Waffen genommen zu haben, und ferne von
ihnen Abentheuer und andere Reiche ſucheten. Alexander in Perſien,E.
Unter Alexan-
der dem Groſ-
ſen.

und Antipater in Macedonien, waren vergnuͤgt, die Griechen ruhig zu ſe-
hen, und man gab ihnen nach der Zerſtoͤrung der Stadt Theben keine Ur-
ſache zum Misvergnuͤgen.

Jn dieſer Ruhe uͤberließen ſich die Griechen ihrer natuͤrlichen Nei-
gung zum Muͤßiggange und zu Luſtbarkeiten 4): und Sparta ſelbſt gieng
von ſeiner Strenge ab 5): der Muͤßiggang fuͤllete die Schulen der Philoſo-
phen, die ſich vervielfaͤltigten, und ſich ein groͤßeres Anſehen gaben; die
Luſtbarkeiten beſchaͤftigten Dichter und Kuͤnſtler, und dieſe ſuchten nach

dem
1) de Fin. L. 4. c. 4.
2) Plin. L. 34. c. 19.
3) Demoſth. Phil. 3. p. 48. a. l. 23.
4) Ariſtot. Polit. L. 7. c. 14. p. 209. edit. Wechel.
5) Ibid. p. 208.
Winckelm. Geſch. der Kunſt. X x
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0033" n="345"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">der Zeit unter den Griechen betrachtet.</hi></fw><lb/>
Was Cicero &#x017F;agt, daß die Kun&#x017F;t ein richtigerer Fu&#x0364;hrer, als die Natur,<lb/>
&#x017F;ey <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#aq">de Fin. L. 4. c.</hi> 4.</note>, kann auf einer Seite, als richtig, auf der andern, als fal&#x017F;ch be-<lb/>
trachtet werden. Nichts entfernet mehr von der Natur, als ein Lehrge-<lb/>
ba&#x0364;ude, und eine &#x017F;trenge Folge nach dem&#x017F;elben, und die&#x017F;es war zum Theil<lb/>
mit die Ur&#x017F;ache von einiger Ha&#x0364;rte, welche in den mehre&#x017F;ten Werken der<lb/>
Kun&#x017F;t vor dem Ly&#x017F;ippus geblieben war. Die&#x017F;er Ku&#x0364;n&#x017F;tler &#x017F;uchte die Natur<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t nachzuahmen, und folgete &#x017F;einen Vorga&#x0364;ngern nur in &#x017F;o weit &#x017F;ie die-<lb/>
&#x017F;elbe erreichet, oder &#x017F;ich weislich u&#x0364;ber die&#x017F;elbe erhoben hatten <note place="foot" n="2)"><hi rendition="#aq">Plin. L. 34. c.</hi> 19.</note>. Er lebete<lb/>
zu einer Zeit, in welcher die Griechen die Su&#x0364;ßigkeit der Freyheit ohne Bit-<lb/>
terkeit &#x017F;chmecketen, in einiger Erniedrigung, aber in Eintracht; und die<lb/>
fa&#x017F;t erlo&#x017F;chene Eifer&#x017F;ucht, welche &#x017F;ie entkra&#x0364;ftet hatte, ließ ihnen, wie wenn<lb/>
ihre Wuth in der Liebe aufho&#x0364;ret, eine &#x017F;tolze Erinnerung der vormaligen<lb/>
Gro&#x0364;ße, und die Ruhe u&#x0364;brig, da die Macedonier, die Feinde ihrer Frey-<lb/>
heit, aus welchem Lande man ehemals nicht einmal einen nu&#x0364;tzen Leibeige-<lb/>
nen haben konnte <note place="foot" n="3)"><hi rendition="#aq">Demo&#x017F;th. Phil. 3. p. 48. a. l.</hi> 23.</note>, &#x017F;ich u&#x0364;ber &#x017F;ie erhoben hatten, die &#x017F;ich aber noch begnu&#x0364;-<lb/>
geten, der Freyheit nur die Waffen genommen zu haben, und ferne von<lb/>
ihnen Abentheuer und andere Reiche &#x017F;ucheten. <hi rendition="#fr">Alexander</hi> in Per&#x017F;ien,<note place="right"><hi rendition="#aq">E.</hi><lb/>
Unter Alexan-<lb/>
der dem Gro&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en.</note><lb/>
und Antipater in Macedonien, waren vergnu&#x0364;gt, die Griechen ruhig zu &#x017F;e-<lb/>
hen, und man gab ihnen nach der Zer&#x017F;to&#x0364;rung der Stadt Theben keine Ur-<lb/>
&#x017F;ache zum Misvergnu&#x0364;gen.</p><lb/>
          <p>Jn die&#x017F;er Ruhe u&#x0364;berließen &#x017F;ich die Griechen ihrer natu&#x0364;rlichen Nei-<lb/>
gung zum Mu&#x0364;ßiggange und zu Lu&#x017F;tbarkeiten <note place="foot" n="4)"><hi rendition="#aq">Ari&#x017F;tot. Polit. L. 7. c. 14. p. 209. edit. Wechel.</hi></note>: und Sparta &#x017F;elb&#x017F;t gieng<lb/>
von &#x017F;einer Strenge ab <note place="foot" n="5)"><hi rendition="#aq">Ibid. p.</hi> 208.</note>: der Mu&#x0364;ßiggang fu&#x0364;llete die Schulen der Philo&#x017F;o-<lb/>
phen, die &#x017F;ich vervielfa&#x0364;ltigten, und &#x017F;ich ein gro&#x0364;ßeres An&#x017F;ehen gaben; die<lb/>
Lu&#x017F;tbarkeiten be&#x017F;cha&#x0364;ftigten Dichter und Ku&#x0364;n&#x017F;tler, und die&#x017F;e &#x017F;uchten nach<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Winckelm. Ge&#x017F;ch. der Kun&#x017F;t.</hi> X x</fw><fw place="bottom" type="catch">dem</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[345/0033] der Zeit unter den Griechen betrachtet. Was Cicero ſagt, daß die Kunſt ein richtigerer Fuͤhrer, als die Natur, ſey 1), kann auf einer Seite, als richtig, auf der andern, als falſch be- trachtet werden. Nichts entfernet mehr von der Natur, als ein Lehrge- baͤude, und eine ſtrenge Folge nach demſelben, und dieſes war zum Theil mit die Urſache von einiger Haͤrte, welche in den mehreſten Werken der Kunſt vor dem Lyſippus geblieben war. Dieſer Kuͤnſtler ſuchte die Natur ſelbſt nachzuahmen, und folgete ſeinen Vorgaͤngern nur in ſo weit ſie die- ſelbe erreichet, oder ſich weislich uͤber dieſelbe erhoben hatten 2). Er lebete zu einer Zeit, in welcher die Griechen die Suͤßigkeit der Freyheit ohne Bit- terkeit ſchmecketen, in einiger Erniedrigung, aber in Eintracht; und die faſt erloſchene Eiferſucht, welche ſie entkraͤftet hatte, ließ ihnen, wie wenn ihre Wuth in der Liebe aufhoͤret, eine ſtolze Erinnerung der vormaligen Groͤße, und die Ruhe uͤbrig, da die Macedonier, die Feinde ihrer Frey- heit, aus welchem Lande man ehemals nicht einmal einen nuͤtzen Leibeige- nen haben konnte 3), ſich uͤber ſie erhoben hatten, die ſich aber noch begnuͤ- geten, der Freyheit nur die Waffen genommen zu haben, und ferne von ihnen Abentheuer und andere Reiche ſucheten. Alexander in Perſien, und Antipater in Macedonien, waren vergnuͤgt, die Griechen ruhig zu ſe- hen, und man gab ihnen nach der Zerſtoͤrung der Stadt Theben keine Ur- ſache zum Misvergnuͤgen. E. Unter Alexan- der dem Groſ- ſen. Jn dieſer Ruhe uͤberließen ſich die Griechen ihrer natuͤrlichen Nei- gung zum Muͤßiggange und zu Luſtbarkeiten 4): und Sparta ſelbſt gieng von ſeiner Strenge ab 5): der Muͤßiggang fuͤllete die Schulen der Philoſo- phen, die ſich vervielfaͤltigten, und ſich ein groͤßeres Anſehen gaben; die Luſtbarkeiten beſchaͤftigten Dichter und Kuͤnſtler, und dieſe ſuchten nach dem 1) de Fin. L. 4. c. 4. 2) Plin. L. 34. c. 19. 3) Demoſth. Phil. 3. p. 48. a. l. 23. 4) Ariſtot. Polit. L. 7. c. 14. p. 209. edit. Wechel. 5) Ibid. p. 208. Winckelm. Geſch. der Kunſt. X x

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte02_1764
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte02_1764/33
Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 2. Dresden, 1764, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte02_1764/33>, abgerufen am 24.04.2024.