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Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 2. Dresden, 1764.

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der Zeit unter den Griechen betrachtet.
in die Geheimnisse der Kunst hinein zu schauen vermögend sind, in einem
Glanze von ihrer ehemaligen Schönheit. Dieser Künstler hat ein hohes
Jdeal eines über die Natur erhabenen Körpers, und eine Natur männlich
vollkommener Jahre, wenn dieselbe bis auf den Grad Göttlicher Genüg-
samkeit erhöhet wäre, in diesem Hercules gebildet, welcher hier erscheint,
wie er sich von den Schlacken der Menschheit mit Feuer gereiniget, und die
Unsterblichkeit und den Sitz unter den Göttern erlanget hat 1). Denn er
ist ohne Bedürfniß menschlicher Nahrung, und ohne ferneren Gebrauch der
Kräfte vorgestellet. Es sind keine Adern sichtbar, und der Unterleib ist
nur gemacht zu genießen, nicht zu nehmen, und völlig, ohne erfüllt zu seyn.
Er hat, wie die Stellung des übrigen Restes urtheilen läßt, mit gestütz-
tem und aufwerts gerichtetem Haupte gesessen, welches mit einer frohen
Ueberdenkung seiner vollbrachten großen Thaten wird beschäftiget gewesen
seyn; wie selbst der Rücken, welcher gleichsam in hohen Betrachtungen ge-
krümmet ist, anzudeuten scheint 2). Die mächtig erhabene Brust bildet
uns diejenige, auf welche der Riese Geryon erdrücket worden, und in der
Länge und Stärke der Schenkel finden wir den unermüdeten Held, wel-
cher den Hirsch mit ehernen Füßen verfolgete und erreichte, und durch un-
zählige Länder bis an die Gränzen der Welt gezogen ist. Der Künstler be-
wundere in den Umrissen dieses Körpers die immerwährende Ausfließung
einer Form in die andere, und die schwebenden Züge, die nach Art der
Wellen sich heben und senken, und in einander verschlungen werden: er
wird finden, daß sich niemand im Nachzeichnen der Richtigkeit versichern
kann, indem der Schwung, dessen Richtung man nachzugehen glaubet,
sich unvermerkt ablenket, und durch einen andern Gang, welchen er nimmt,

das
1) So malete ihn Artemon. Plin. L. 35. c. 40.
2) Es kann kein spinnender Hercules seyn, und ich entsinne mich nicht, wo jemand will ge-
funden haben, daß Raphael in demselben diese Stellung gesehen a).
a) Batteux Cours de bell. lettr. T. 1. p. 66.
Winckelm. Gesch. der Kunst. A a a

der Zeit unter den Griechen betrachtet.
in die Geheimniſſe der Kunſt hinein zu ſchauen vermoͤgend ſind, in einem
Glanze von ihrer ehemaligen Schoͤnheit. Dieſer Kuͤnſtler hat ein hohes
Jdeal eines uͤber die Natur erhabenen Koͤrpers, und eine Natur maͤnnlich
vollkommener Jahre, wenn dieſelbe bis auf den Grad Goͤttlicher Genuͤg-
ſamkeit erhoͤhet waͤre, in dieſem Hercules gebildet, welcher hier erſcheint,
wie er ſich von den Schlacken der Menſchheit mit Feuer gereiniget, und die
Unſterblichkeit und den Sitz unter den Goͤttern erlanget hat 1). Denn er
iſt ohne Beduͤrfniß menſchlicher Nahrung, und ohne ferneren Gebrauch der
Kraͤfte vorgeſtellet. Es ſind keine Adern ſichtbar, und der Unterleib iſt
nur gemacht zu genießen, nicht zu nehmen, und voͤllig, ohne erfuͤllt zu ſeyn.
Er hat, wie die Stellung des uͤbrigen Reſtes urtheilen laͤßt, mit geſtuͤtz-
tem und aufwerts gerichtetem Haupte geſeſſen, welches mit einer frohen
Ueberdenkung ſeiner vollbrachten großen Thaten wird beſchaͤftiget geweſen
ſeyn; wie ſelbſt der Ruͤcken, welcher gleichſam in hohen Betrachtungen ge-
kruͤmmet iſt, anzudeuten ſcheint 2). Die maͤchtig erhabene Bruſt bildet
uns diejenige, auf welche der Rieſe Geryon erdruͤcket worden, und in der
Laͤnge und Staͤrke der Schenkel finden wir den unermuͤdeten Held, wel-
cher den Hirſch mit ehernen Fuͤßen verfolgete und erreichte, und durch un-
zaͤhlige Laͤnder bis an die Graͤnzen der Welt gezogen iſt. Der Kuͤnſtler be-
wundere in den Umriſſen dieſes Koͤrpers die immerwaͤhrende Ausfließung
einer Form in die andere, und die ſchwebenden Zuͤge, die nach Art der
Wellen ſich heben und ſenken, und in einander verſchlungen werden: er
wird finden, daß ſich niemand im Nachzeichnen der Richtigkeit verſichern
kann, indem der Schwung, deſſen Richtung man nachzugehen glaubet,
ſich unvermerkt ablenket, und durch einen andern Gang, welchen er nimmt,

das
1) So malete ihn Artemon. Plin. L. 35. c. 40.
2) Es kann kein ſpinnender Hercules ſeyn, und ich entſinne mich nicht, wo jemand will ge-
funden haben, daß Raphael in demſelben dieſe Stellung geſehen a).
a) Batteux Cours de bell. lettr. T. 1. p. 66.
Winckelm. Geſch. der Kunſt. A a a
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[369/0057] der Zeit unter den Griechen betrachtet. in die Geheimniſſe der Kunſt hinein zu ſchauen vermoͤgend ſind, in einem Glanze von ihrer ehemaligen Schoͤnheit. Dieſer Kuͤnſtler hat ein hohes Jdeal eines uͤber die Natur erhabenen Koͤrpers, und eine Natur maͤnnlich vollkommener Jahre, wenn dieſelbe bis auf den Grad Goͤttlicher Genuͤg- ſamkeit erhoͤhet waͤre, in dieſem Hercules gebildet, welcher hier erſcheint, wie er ſich von den Schlacken der Menſchheit mit Feuer gereiniget, und die Unſterblichkeit und den Sitz unter den Goͤttern erlanget hat 1). Denn er iſt ohne Beduͤrfniß menſchlicher Nahrung, und ohne ferneren Gebrauch der Kraͤfte vorgeſtellet. Es ſind keine Adern ſichtbar, und der Unterleib iſt nur gemacht zu genießen, nicht zu nehmen, und voͤllig, ohne erfuͤllt zu ſeyn. Er hat, wie die Stellung des uͤbrigen Reſtes urtheilen laͤßt, mit geſtuͤtz- tem und aufwerts gerichtetem Haupte geſeſſen, welches mit einer frohen Ueberdenkung ſeiner vollbrachten großen Thaten wird beſchaͤftiget geweſen ſeyn; wie ſelbſt der Ruͤcken, welcher gleichſam in hohen Betrachtungen ge- kruͤmmet iſt, anzudeuten ſcheint 2). Die maͤchtig erhabene Bruſt bildet uns diejenige, auf welche der Rieſe Geryon erdruͤcket worden, und in der Laͤnge und Staͤrke der Schenkel finden wir den unermuͤdeten Held, wel- cher den Hirſch mit ehernen Fuͤßen verfolgete und erreichte, und durch un- zaͤhlige Laͤnder bis an die Graͤnzen der Welt gezogen iſt. Der Kuͤnſtler be- wundere in den Umriſſen dieſes Koͤrpers die immerwaͤhrende Ausfließung einer Form in die andere, und die ſchwebenden Zuͤge, die nach Art der Wellen ſich heben und ſenken, und in einander verſchlungen werden: er wird finden, daß ſich niemand im Nachzeichnen der Richtigkeit verſichern kann, indem der Schwung, deſſen Richtung man nachzugehen glaubet, ſich unvermerkt ablenket, und durch einen andern Gang, welchen er nimmt, das 1) So malete ihn Artemon. Plin. L. 35. c. 40. 2) Es kann kein ſpinnender Hercules ſeyn, und ich entſinne mich nicht, wo jemand will ge- funden haben, daß Raphael in demſelben dieſe Stellung geſehen a). a) Batteux Cours de bell. lettr. T. 1. p. 66. Winckelm. Geſch. der Kunſt. A a a

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Zitationshilfe: Winckelmann, Johann Joachim: Geschichte der Kunst des Alterthums. Bd. 2. Dresden, 1764, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/winckelmann_kunstgeschichte02_1764/57>, abgerufen am 28.03.2024.