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Wolff, Christian von: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts. Halle (Saale), 1754.

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und dem allgem. Recht der Menschen.
hier von der Gerechtigkeit und von dem Un-
rechte sagen, auch auf die erworbenen Rech-
te angewendet werden müsse. Jm übrigen, gleich
wie die ungezähmte Freyheit die Mutter
der Ungerechtigkeit ist (§. 85.); also ist sie auch,
die dem Unrecht Thür und Angel öffnet
(§. 54.).

§. 88.

Man sagt, daß derjenige den andern be-Von der
Beleidi-
gung.

leidige (alterum laedit), wer sein vollkom-
menes Recht verletzet, oder ihm unrecht
thut; und also ist bey jeder Beleidigung
das Unrecht.
Weil wir niemand unrecht
thun dürfen (§. 87.); so muß auch nie-
mand beleidiget werden.
Ob aber gleich
die Beleidigung und das Unrecht in eben der-
selben Handlung bestehen; so sieht man doch
datin den Unterschied, daß die Beleidigung
sich auf die Person, deren Recht verletzet
wird, als eine Handlung beziehet, die sie nicht
dulden darf; das Unrecht aber wird als eine
Verletzung des Rechts an und vor sich selbst
angesehen, ohne auf die Person zu sehen, die
dadurch beleidiget wird, nämlich als eine
Handlung, die an sich unerlaubt, oder man
sieht nur auf das Recht selbst, welches ver-
letzet wird. Wie aber die natürliche Gerech-
tigkeit von weiterem Umfange ist, als die bür-
gerliche (§. 85.); also sind auch die natürli-
chen Beleidigungen von weiterm Umfange, als
sie im bürgerlichen Rechte bestimmt werden.
Noch deutlicher wird dieses aus der bald fol-
genden und künftigen Abhandlung werden.

§. 89.
D 4

und dem allgem. Recht der Menſchen.
hier von der Gerechtigkeit und von dem Un-
rechte ſagen, auch auf die erworbenen Rech-
te angewendet werden muͤſſe. Jm uͤbrigen, gleich
wie die ungezaͤhmte Freyheit die Mutter
der Ungerechtigkeit iſt (§. 85.); alſo iſt ſie auch,
die dem Unrecht Thuͤr und Angel oͤffnet
(§. 54.).

§. 88.

Man ſagt, daß derjenige den andern be-Von der
Beleidi-
gung.

leidige (alterum lædit), wer ſein vollkom-
menes Recht verletzet, oder ihm unrecht
thut; und alſo iſt bey jeder Beleidigung
das Unrecht.
Weil wir niemand unrecht
thun duͤrfen (§. 87.); ſo muß auch nie-
mand beleidiget werden.
Ob aber gleich
die Beleidigung und das Unrecht in eben der-
ſelben Handlung beſtehen; ſo ſieht man doch
datin den Unterſchied, daß die Beleidigung
ſich auf die Perſon, deren Recht verletzet
wird, als eine Handlung beziehet, die ſie nicht
dulden darf; das Unrecht aber wird als eine
Verletzung des Rechts an und vor ſich ſelbſt
angeſehen, ohne auf die Perſon zu ſehen, die
dadurch beleidiget wird, naͤmlich als eine
Handlung, die an ſich unerlaubt, oder man
ſieht nur auf das Recht ſelbſt, welches ver-
letzet wird. Wie aber die natuͤrliche Gerech-
tigkeit von weiterem Umfange iſt, als die buͤr-
gerliche (§. 85.); alſo ſind auch die natuͤrli-
chen Beleidigungen von weiterm Umfange, als
ſie im buͤrgerlichen Rechte beſtimmt werden.
Noch deutlicher wird dieſes aus der bald fol-
genden und kuͤnftigen Abhandlung werden.

§. 89.
D 4
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[55/0091] und dem allgem. Recht der Menſchen. hier von der Gerechtigkeit und von dem Un- rechte ſagen, auch auf die erworbenen Rech- te angewendet werden muͤſſe. Jm uͤbrigen, gleich wie die ungezaͤhmte Freyheit die Mutter der Ungerechtigkeit iſt (§. 85.); alſo iſt ſie auch, die dem Unrecht Thuͤr und Angel oͤffnet (§. 54.). §. 88. Man ſagt, daß derjenige den andern be- leidige (alterum lædit), wer ſein vollkom- menes Recht verletzet, oder ihm unrecht thut; und alſo iſt bey jeder Beleidigung das Unrecht. Weil wir niemand unrecht thun duͤrfen (§. 87.); ſo muß auch nie- mand beleidiget werden. Ob aber gleich die Beleidigung und das Unrecht in eben der- ſelben Handlung beſtehen; ſo ſieht man doch datin den Unterſchied, daß die Beleidigung ſich auf die Perſon, deren Recht verletzet wird, als eine Handlung beziehet, die ſie nicht dulden darf; das Unrecht aber wird als eine Verletzung des Rechts an und vor ſich ſelbſt angeſehen, ohne auf die Perſon zu ſehen, die dadurch beleidiget wird, naͤmlich als eine Handlung, die an ſich unerlaubt, oder man ſieht nur auf das Recht ſelbſt, welches ver- letzet wird. Wie aber die natuͤrliche Gerech- tigkeit von weiterem Umfange iſt, als die buͤr- gerliche (§. 85.); alſo ſind auch die natuͤrli- chen Beleidigungen von weiterm Umfange, als ſie im buͤrgerlichen Rechte beſtimmt werden. Noch deutlicher wird dieſes aus der bald fol- genden und kuͤnftigen Abhandlung werden. Von der Beleidi- gung. §. 89. D 4

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Zitationshilfe: Wolff, Christian von: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts. Halle (Saale), 1754, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wolff_voelckerrecht_1754/91>, abgerufen am 28.03.2024.