Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867.

Bild:
<< vorherige Seite

Von der Schwere.
der complicirtesten Weise zusammenwirken. Der Schwerpunkt jedes
einzelnen beweglichen Scelettheils, oder, wenn noch ein äusseres Ge-
wicht an dem betreffenden Theil wirkt, der ihm und dem Gewicht ge-
meinsame Schwerpunkt, ist der Angriffspunkt der Last. Jede Inser-
tionsstelle eines Muskels ist dagegen Angriffspunkt einer Kraft. Dabei
kann übrigens den Angriffspunkten einer im gleichen Sinne wirkenden
Muskelgruppe meistens ein einziger Angriffspunkt substituirt werden.
Durchweg befindet sich der Angriffspunkt der Kraft viel näher an dem
Gelenkende, in welchem die Bewegung stattfindet, als der Angriffs-
punkt der Last. Die Theile des Scelets sind also nicht Krafthebel,
sondern Geschwindigkeitshebel. Zugleich ist die Zugrichtung der
Kräfte eine äusserst ungünstige, da die Muskeln unter sehr spitzen
Winkeln an den Knochen sich ansetzen.

Die speciellere Erörterung der Gelenkbewegungen muss, da sie sich von der
Betrachtung der einzelnen Gelenke nicht trennen lässt, der Physiologie überlassen
bleiben. S. Lehrb. der Physiologie, §. 231. Um sich die complicirten Gelenkbewe-
gungen der Scelettheile nur an einem einzigen Beispiele anschaulich zu machen, beo-
bachte man die Bewegungen der Hand beim Schreiben oder bei der Führung eines
Präparirmessers. Beim Schreiben wird die Feder zwischen den ersten Phalangen des
Daumens und Zeigefingers festgehalten und ruht auf dem Mittelfinger. Die Feder selbst
ist ein Hebel, der je nach dem geforderten Umfang der Bewegungen bald um den
weiter nach vorn liegenden Unterstützungspunkt des Zeigefingers, bald um den mehr
zurückliegenden Unterstützungspunkt des Daumens sich dreht. Die Phalangen der Fin-
ger wechseln dem entsprechend in ihren zusammengesetzten Hebelbewegungen.



II. Physik der Flüssigkeiten.
Fünftes Capitel.
Vom flüssigen Aggregatzustand.

66
Cohäsion, Zu-
sammendrück-
barkeit, Volum
lum und Form
der Flüssigkei-
ten.

Wir haben den flüssigen Aggregatzustand als denjenigen
bezeichnet, in welchem die einzelnen Theilchen eines Körpers so ge-
ringe Anziehungskräfte auf einander ausüben, dass sie nicht fest mit
einander verbunden bleiben, sondern leicht ihre Lage wechseln. Dess-
halb ist jede Kraft, insbesondere aber auch die Schwere auf die Flüs-
sigkeiten von weit bedeutenderem Einfluss als auf die festen Körper.
Die Schwerkraft wirkt auf jedes Theilchen einer Flüssigkeit ebenso
wie auf jedes Theilchen eines festen Körpers. Aber da die Molecüle
des letzteren durch ihre gegenseitigen Anziehungskräfte festgehalten
sind, so wird durch die Anziehung der Schwerkraft die Form der fe-
sten Körper nicht merklich beeinflusst. Dagegen überwiegt die Ein-
wirkung der Schwere auf die Theilchen einer Flüssigkeit über die
gegenseitige Anziehung dieser Theilchen. Die Form einer ruhenden

Von der Schwere.
der complicirtesten Weise zusammenwirken. Der Schwerpunkt jedes
einzelnen beweglichen Scelettheils, oder, wenn noch ein äusseres Ge-
wicht an dem betreffenden Theil wirkt, der ihm und dem Gewicht ge-
meinsame Schwerpunkt, ist der Angriffspunkt der Last. Jede Inser-
tionsstelle eines Muskels ist dagegen Angriffspunkt einer Kraft. Dabei
kann übrigens den Angriffspunkten einer im gleichen Sinne wirkenden
Muskelgruppe meistens ein einziger Angriffspunkt substituirt werden.
Durchweg befindet sich der Angriffspunkt der Kraft viel näher an dem
Gelenkende, in welchem die Bewegung stattfindet, als der Angriffs-
punkt der Last. Die Theile des Scelets sind also nicht Krafthebel,
sondern Geschwindigkeitshebel. Zugleich ist die Zugrichtung der
Kräfte eine äusserst ungünstige, da die Muskeln unter sehr spitzen
Winkeln an den Knochen sich ansetzen.

Die speciellere Erörterung der Gelenkbewegungen muss, da sie sich von der
Betrachtung der einzelnen Gelenke nicht trennen lässt, der Physiologie überlassen
bleiben. S. Lehrb. der Physiologie, §. 231. Um sich die complicirten Gelenkbewe-
gungen der Scelettheile nur an einem einzigen Beispiele anschaulich zu machen, beo-
bachte man die Bewegungen der Hand beim Schreiben oder bei der Führung eines
Präparirmessers. Beim Schreiben wird die Feder zwischen den ersten Phalangen des
Daumens und Zeigefingers festgehalten und ruht auf dem Mittelfinger. Die Feder selbst
ist ein Hebel, der je nach dem geforderten Umfang der Bewegungen bald um den
weiter nach vorn liegenden Unterstützungspunkt des Zeigefingers, bald um den mehr
zurückliegenden Unterstützungspunkt des Daumens sich dreht. Die Phalangen der Fin-
ger wechseln dem entsprechend in ihren zusammengesetzten Hebelbewegungen.



II. Physik der Flüssigkeiten.
Fünftes Capitel.
Vom flüssigen Aggregatzustand.

66
Cohäsion, Zu-
sammendrück-
barkeit, Volum
lum und Form
der Flüssigkei-
ten.

Wir haben den flüssigen Aggregatzustand als denjenigen
bezeichnet, in welchem die einzelnen Theilchen eines Körpers so ge-
ringe Anziehungskräfte auf einander ausüben, dass sie nicht fest mit
einander verbunden bleiben, sondern leicht ihre Lage wechseln. Dess-
halb ist jede Kraft, insbesondere aber auch die Schwere auf die Flüs-
sigkeiten von weit bedeutenderem Einfluss als auf die festen Körper.
Die Schwerkraft wirkt auf jedes Theilchen einer Flüssigkeit ebenso
wie auf jedes Theilchen eines festen Körpers. Aber da die Molecüle
des letzteren durch ihre gegenseitigen Anziehungskräfte festgehalten
sind, so wird durch die Anziehung der Schwerkraft die Form der fe-
sten Körper nicht merklich beeinflusst. Dagegen überwiegt die Ein-
wirkung der Schwere auf die Theilchen einer Flüssigkeit über die
gegenseitige Anziehung dieser Theilchen. Die Form einer ruhenden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0114" n="92"/><fw place="top" type="header">Von der Schwere.</fw><lb/>
der complicirtesten Weise zusammenwirken. Der Schwerpunkt jedes<lb/>
einzelnen beweglichen Scelettheils, oder, wenn noch ein äusseres Ge-<lb/>
wicht an dem betreffenden Theil wirkt, der ihm und dem Gewicht ge-<lb/>
meinsame Schwerpunkt, ist der Angriffspunkt der Last. Jede Inser-<lb/>
tionsstelle eines Muskels ist dagegen Angriffspunkt einer Kraft. Dabei<lb/>
kann übrigens den Angriffspunkten einer im gleichen Sinne wirkenden<lb/>
Muskelgruppe meistens ein einziger Angriffspunkt substituirt werden.<lb/>
Durchweg befindet sich der Angriffspunkt der Kraft viel näher an dem<lb/>
Gelenkende, in welchem die Bewegung stattfindet, als der Angriffs-<lb/>
punkt der Last. Die Theile des Scelets sind also nicht Krafthebel,<lb/>
sondern Geschwindigkeitshebel. Zugleich ist die Zugrichtung der<lb/>
Kräfte eine äusserst ungünstige, da die Muskeln unter sehr spitzen<lb/>
Winkeln an den Knochen sich ansetzen.</p><lb/>
            <p>Die speciellere Erörterung der Gelenkbewegungen muss, da sie sich von der<lb/>
Betrachtung der einzelnen Gelenke nicht trennen lässt, der Physiologie überlassen<lb/>
bleiben. S. Lehrb. der Physiologie, §. 231. Um sich die complicirten Gelenkbewe-<lb/>
gungen der Scelettheile nur an einem einzigen Beispiele anschaulich zu machen, beo-<lb/>
bachte man die Bewegungen der Hand beim Schreiben oder bei der Führung eines<lb/>
Präparirmessers. Beim Schreiben wird die Feder zwischen den ersten Phalangen des<lb/>
Daumens und Zeigefingers festgehalten und ruht auf dem Mittelfinger. Die Feder selbst<lb/>
ist ein Hebel, der je nach dem geforderten Umfang der Bewegungen bald um den<lb/>
weiter nach vorn liegenden Unterstützungspunkt des Zeigefingers, bald um den mehr<lb/>
zurückliegenden Unterstützungspunkt des Daumens sich dreht. Die Phalangen der Fin-<lb/>
ger wechseln dem entsprechend in ihren zusammengesetzten Hebelbewegungen.</p>
          </div>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head>II. Physik der Flüssigkeiten.</head><lb/>
          <div n="3">
            <head><hi rendition="#g">Fünftes Capitel</hi>.<lb/>
Vom flüssigen Aggregatzustand.</head><lb/>
            <note place="left">66<lb/>
Cohäsion, Zu-<lb/>
sammendrück-<lb/>
barkeit, Volum<lb/>
lum und Form<lb/>
der Flüssigkei-<lb/>
ten.</note>
            <p>Wir haben den <hi rendition="#g">flüssigen Aggregatzustand</hi> als denjenigen<lb/>
bezeichnet, in welchem die einzelnen Theilchen eines Körpers so ge-<lb/>
ringe Anziehungskräfte auf einander ausüben, dass sie nicht fest mit<lb/>
einander verbunden bleiben, sondern leicht ihre Lage wechseln. Dess-<lb/>
halb ist jede Kraft, insbesondere aber auch die Schwere auf die Flüs-<lb/>
sigkeiten von weit bedeutenderem Einfluss als auf die festen Körper.<lb/>
Die Schwerkraft wirkt auf jedes Theilchen einer Flüssigkeit ebenso<lb/>
wie auf jedes Theilchen eines festen Körpers. Aber da die Molecüle<lb/>
des letzteren durch ihre gegenseitigen Anziehungskräfte festgehalten<lb/>
sind, so wird durch die Anziehung der Schwerkraft die Form der fe-<lb/>
sten Körper nicht merklich beeinflusst. Dagegen überwiegt die Ein-<lb/>
wirkung der Schwere auf die Theilchen einer Flüssigkeit über die<lb/>
gegenseitige Anziehung dieser Theilchen. Die Form einer ruhenden<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[92/0114] Von der Schwere. der complicirtesten Weise zusammenwirken. Der Schwerpunkt jedes einzelnen beweglichen Scelettheils, oder, wenn noch ein äusseres Ge- wicht an dem betreffenden Theil wirkt, der ihm und dem Gewicht ge- meinsame Schwerpunkt, ist der Angriffspunkt der Last. Jede Inser- tionsstelle eines Muskels ist dagegen Angriffspunkt einer Kraft. Dabei kann übrigens den Angriffspunkten einer im gleichen Sinne wirkenden Muskelgruppe meistens ein einziger Angriffspunkt substituirt werden. Durchweg befindet sich der Angriffspunkt der Kraft viel näher an dem Gelenkende, in welchem die Bewegung stattfindet, als der Angriffs- punkt der Last. Die Theile des Scelets sind also nicht Krafthebel, sondern Geschwindigkeitshebel. Zugleich ist die Zugrichtung der Kräfte eine äusserst ungünstige, da die Muskeln unter sehr spitzen Winkeln an den Knochen sich ansetzen. Die speciellere Erörterung der Gelenkbewegungen muss, da sie sich von der Betrachtung der einzelnen Gelenke nicht trennen lässt, der Physiologie überlassen bleiben. S. Lehrb. der Physiologie, §. 231. Um sich die complicirten Gelenkbewe- gungen der Scelettheile nur an einem einzigen Beispiele anschaulich zu machen, beo- bachte man die Bewegungen der Hand beim Schreiben oder bei der Führung eines Präparirmessers. Beim Schreiben wird die Feder zwischen den ersten Phalangen des Daumens und Zeigefingers festgehalten und ruht auf dem Mittelfinger. Die Feder selbst ist ein Hebel, der je nach dem geforderten Umfang der Bewegungen bald um den weiter nach vorn liegenden Unterstützungspunkt des Zeigefingers, bald um den mehr zurückliegenden Unterstützungspunkt des Daumens sich dreht. Die Phalangen der Fin- ger wechseln dem entsprechend in ihren zusammengesetzten Hebelbewegungen. II. Physik der Flüssigkeiten. Fünftes Capitel. Vom flüssigen Aggregatzustand. Wir haben den flüssigen Aggregatzustand als denjenigen bezeichnet, in welchem die einzelnen Theilchen eines Körpers so ge- ringe Anziehungskräfte auf einander ausüben, dass sie nicht fest mit einander verbunden bleiben, sondern leicht ihre Lage wechseln. Dess- halb ist jede Kraft, insbesondere aber auch die Schwere auf die Flüs- sigkeiten von weit bedeutenderem Einfluss als auf die festen Körper. Die Schwerkraft wirkt auf jedes Theilchen einer Flüssigkeit ebenso wie auf jedes Theilchen eines festen Körpers. Aber da die Molecüle des letzteren durch ihre gegenseitigen Anziehungskräfte festgehalten sind, so wird durch die Anziehung der Schwerkraft die Form der fe- sten Körper nicht merklich beeinflusst. Dagegen überwiegt die Ein- wirkung der Schwere auf die Theilchen einer Flüssigkeit über die gegenseitige Anziehung dieser Theilchen. Die Form einer ruhenden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/114
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/114>, abgerufen am 29.03.2024.