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Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867.

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Von den Geräuschen.
den die Atrioventricularklappen bei ihrem Schluss in Schwingungen ge-
rathen, die sich auf die Herzsubstanz fortpflanzen. Zugleich müssen aber
Vibrationen der Herzsubstanz in Folge der Contraction ihrer Muskelfa-
sern entstehen. Es ist daher der erste Herzton wahrscheinlich vor Allem
als ein Muskelton aufzufassen, dem ein durch den Schluss der Atrioventri-
cularklappen verursachtes Geräusch sich beimengen wird. Hiermit stimmt
überein, dass der erste Herzton viel mehr den Charakter des Klangs
an sich trägt als der zweite, der eher einem kurzen Geräusch gleicht.
In allen Muskeln entstehen, in ähnlicher Weise wie im Herzen bei der
Systole, Töne, welche den Act der Zusammenziehung begleiten und so
lange als die letztere andauern. Die Höhe derselben richtet sich nach
der Anzahl der Innervationsimpulse; der Muskel macht ebensoviel
Schwingungen in der Zeiteinheit, als man ihm Innervationsimpulse (z. B.
einzelne elektrische Schläge) mittheilt. Diese von Helmholtz an an-
dern Muskeln festgestellte Thatsache könnte vielleicht benützt werden,
um aus der Höhe des ersten Herztons auf Eigenthümlichkeiten in der
Innervation des Herzens zu schliessen, für welche uns bis jetzt jeder
Maasstab fehlt.

Wenn eine der Atrioventricular- oder Semilunarklappen nicht
vollständig schliesst, so bringt sie der vorbeifliessende Blutstrom in
dauernde Erzitterungen und verursacht dadurch ein dauerndes Geräusch.
Sobald daher einer der Herztöne von einem solchen Geräusch begleitet
oder durch dasselbe ersetzt ist, so kann man auf abnorme Zustände
der Klappen, wie Excrescenzen an denselben, Verengerung der Ostien
u. dergl., schliessen. Diese Geräusche sind sehr verschiedenartig, bla-
send, brausend, rasselnd u. s. w. Eine genauere physikalische Er-
kenntniss, durch welche Ursachen die Verschiedenheit solcher Geräu-
sche bedingt ist, wird ohne Zweifel mit der Zeit für die Diagnose
noch ihre Früchte tragen, indem aus der Art des Geräusches auf die
Beschaffenheit der pathologischen Veränderung sich schliessen lassen
dürfte. Doch bietet der Umstand, dass an einem und demselben Her-
zen die Geräusche sehr veränderlich sein können, in dieser Beziehung
grosse Schwierigkeiten; man müsste insbesondere die Energie der
Herzbewegungen, die hauptsächlich solche Verschiedenheiten bedingt,
mit in Rechnung ziehen. Bis jetzt begnügt man sich im Allgemeinen
damit, aus dem Ort des Geräuschs den Sitz der Veränderung zu er-
schliessen. Dieser wichtige Theil der physikalischen Diagnostik stützt
sich daher gegenwärtig noch mehr auf anatomische als auf physikali-
sche Kenntnisse.



Von den Geräuschen.
den die Atrioventricularklappen bei ihrem Schluss in Schwingungen ge-
rathen, die sich auf die Herzsubstanz fortpflanzen. Zugleich müssen aber
Vibrationen der Herzsubstanz in Folge der Contraction ihrer Muskelfa-
sern entstehen. Es ist daher der erste Herzton wahrscheinlich vor Allem
als ein Muskelton aufzufassen, dem ein durch den Schluss der Atrioventri-
cularklappen verursachtes Geräusch sich beimengen wird. Hiermit stimmt
überein, dass der erste Herzton viel mehr den Charakter des Klangs
an sich trägt als der zweite, der eher einem kurzen Geräusch gleicht.
In allen Muskeln entstehen, in ähnlicher Weise wie im Herzen bei der
Systole, Töne, welche den Act der Zusammenziehung begleiten und so
lange als die letztere andauern. Die Höhe derselben richtet sich nach
der Anzahl der Innervationsimpulse; der Muskel macht ebensoviel
Schwingungen in der Zeiteinheit, als man ihm Innervationsimpulse (z. B.
einzelne elektrische Schläge) mittheilt. Diese von Helmholtz an an-
dern Muskeln festgestellte Thatsache könnte vielleicht benützt werden,
um aus der Höhe des ersten Herztons auf Eigenthümlichkeiten in der
Innervation des Herzens zu schliessen, für welche uns bis jetzt jeder
Maasstab fehlt.

Wenn eine der Atrioventricular- oder Semilunarklappen nicht
vollständig schliesst, so bringt sie der vorbeifliessende Blutstrom in
dauernde Erzitterungen und verursacht dadurch ein dauerndes Geräusch.
Sobald daher einer der Herztöne von einem solchen Geräusch begleitet
oder durch dasselbe ersetzt ist, so kann man auf abnorme Zustände
der Klappen, wie Excrescenzen an denselben, Verengerung der Ostien
u. dergl., schliessen. Diese Geräusche sind sehr verschiedenartig, bla-
send, brausend, rasselnd u. s. w. Eine genauere physikalische Er-
kenntniss, durch welche Ursachen die Verschiedenheit solcher Geräu-
sche bedingt ist, wird ohne Zweifel mit der Zeit für die Diagnose
noch ihre Früchte tragen, indem aus der Art des Geräusches auf die
Beschaffenheit der pathologischen Veränderung sich schliessen lassen
dürfte. Doch bietet der Umstand, dass an einem und demselben Her-
zen die Geräusche sehr veränderlich sein können, in dieser Beziehung
grosse Schwierigkeiten; man müsste insbesondere die Energie der
Herzbewegungen, die hauptsächlich solche Verschiedenheiten bedingt,
mit in Rechnung ziehen. Bis jetzt begnügt man sich im Allgemeinen
damit, aus dem Ort des Geräuschs den Sitz der Veränderung zu er-
schliessen. Dieser wichtige Theil der physikalischen Diagnostik stützt
sich daher gegenwärtig noch mehr auf anatomische als auf physikali-
sche Kenntnisse.



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[185/0207] Von den Geräuschen. den die Atrioventricularklappen bei ihrem Schluss in Schwingungen ge- rathen, die sich auf die Herzsubstanz fortpflanzen. Zugleich müssen aber Vibrationen der Herzsubstanz in Folge der Contraction ihrer Muskelfa- sern entstehen. Es ist daher der erste Herzton wahrscheinlich vor Allem als ein Muskelton aufzufassen, dem ein durch den Schluss der Atrioventri- cularklappen verursachtes Geräusch sich beimengen wird. Hiermit stimmt überein, dass der erste Herzton viel mehr den Charakter des Klangs an sich trägt als der zweite, der eher einem kurzen Geräusch gleicht. In allen Muskeln entstehen, in ähnlicher Weise wie im Herzen bei der Systole, Töne, welche den Act der Zusammenziehung begleiten und so lange als die letztere andauern. Die Höhe derselben richtet sich nach der Anzahl der Innervationsimpulse; der Muskel macht ebensoviel Schwingungen in der Zeiteinheit, als man ihm Innervationsimpulse (z. B. einzelne elektrische Schläge) mittheilt. Diese von Helmholtz an an- dern Muskeln festgestellte Thatsache könnte vielleicht benützt werden, um aus der Höhe des ersten Herztons auf Eigenthümlichkeiten in der Innervation des Herzens zu schliessen, für welche uns bis jetzt jeder Maasstab fehlt. Wenn eine der Atrioventricular- oder Semilunarklappen nicht vollständig schliesst, so bringt sie der vorbeifliessende Blutstrom in dauernde Erzitterungen und verursacht dadurch ein dauerndes Geräusch. Sobald daher einer der Herztöne von einem solchen Geräusch begleitet oder durch dasselbe ersetzt ist, so kann man auf abnorme Zustände der Klappen, wie Excrescenzen an denselben, Verengerung der Ostien u. dergl., schliessen. Diese Geräusche sind sehr verschiedenartig, bla- send, brausend, rasselnd u. s. w. Eine genauere physikalische Er- kenntniss, durch welche Ursachen die Verschiedenheit solcher Geräu- sche bedingt ist, wird ohne Zweifel mit der Zeit für die Diagnose noch ihre Früchte tragen, indem aus der Art des Geräusches auf die Beschaffenheit der pathologischen Veränderung sich schliessen lassen dürfte. Doch bietet der Umstand, dass an einem und demselben Her- zen die Geräusche sehr veränderlich sein können, in dieser Beziehung grosse Schwierigkeiten; man müsste insbesondere die Energie der Herzbewegungen, die hauptsächlich solche Verschiedenheiten bedingt, mit in Rechnung ziehen. Bis jetzt begnügt man sich im Allgemeinen damit, aus dem Ort des Geräuschs den Sitz der Veränderung zu er- schliessen. Dieser wichtige Theil der physikalischen Diagnostik stützt sich daher gegenwärtig noch mehr auf anatomische als auf physikali- sche Kenntnisse.

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867, S. 185. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/207>, abgerufen am 23.04.2024.