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Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867.

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Einleitung.
zung werden aber die letzteren von der Physik ausgeschieden, und
ist daher diese als die Wissenschaft zu definiren, welche von den Be-
wegungen in der Körperwelt mit Ausnahme jener Bewegungen handelt,
die entweder dem Gebiet der chemischen Verwandtschaftsäusserungen
angehören oder die Lebenserscheinungen der Organismen zusammen-
setzen. Hieraus erhellt, dass die Physik, als die allgemeine Lehre von
den Bewegungen, in dem ganzen System der Naturlehre die erste
Stelle einnimmt. An zweiter Stelle kommt die Chemie, die nur eine
besondere Gruppe von Bewegungen herausgreift, jene nämlich, welche
durch gegenseitige von der materiellen Beschaffenheit der Theilchen
herrührende Anziehungen bedingt sind und Verbindungen nach regel-
mässigen Zahlenverhältnissen bewirken. Die dritte Stelle gehört der
Physiologie, welche diejenigen physikalischen und chemischen Erschei-
nungen in Betrachtung zieht, die zu dem Leben der Organismen in
Beziehung stehen.

Da alle Erscheinungen, mit denen sich die Physik beschäftigt,5
Die Natur-
kräfte.

auf Bewegungen zurückzuführen sind, so sind auch die Ursachen, die
für die Physik in Betracht kommen, ausschliesslich Bewegungsur-
sachen
. Die Ursache einer Bewegung nennt man nun allgemein eine
Kraft; zum Vorbild dient hierbei die menschliche Muskelkraft, als die
uns in ihrer Wirkung geläufigste. Wir unterscheiden ebenso viel
physikalische Kräfte, als wir Bewegungsursachen in der Natur kennen.
Da aber bei jeder Bewegung die bewegten Dinge entweder sich nä-
hern oder von einander entfernen können, so sind zweierlei Kräfte
möglich, Anziehungs- und Abstossungskräfte, und beide sind
in der Natur zu beobachten. So ist die Schwere eine Anziehungskraft,
die Elektricität lernen wir, je nachdem gleichartige oder ungleichartige
Elektricitäten sich begegnen, als abstossende und als anziehende Kraft
kennen, die Wärme muss, indem sie das Volum der Körper vergrös-
sert, als abstossende Kraft wirken. In diesem letzten Fall haben wir
zugleich das Beispiel einer Kraft vor uns, die nicht zwischen getrenn-
ten Körpern sondern zwischen den Theilchen eines und desselben Kör-
pers wirksam ist. Man bezeichnet Kräfte letzterer Art häufig als
Molecularkräfte, und hiernach werden diejenigen Theile der Physik,
die sich mit den Wirkungen der Molecularkräfte beschäftigen, auch
unter dem Namen der Molecularphysik zusammengefasst. Doch
lässt sich eine Trennung zwischen der Molecularphysik und der Physik
der Körper keineswegs strenge durchführen.



Einleitung.
zung werden aber die letzteren von der Physik ausgeschieden, und
ist daher diese als die Wissenschaft zu definiren, welche von den Be-
wegungen in der Körperwelt mit Ausnahme jener Bewegungen handelt,
die entweder dem Gebiet der chemischen Verwandtschaftsäusserungen
angehören oder die Lebenserscheinungen der Organismen zusammen-
setzen. Hieraus erhellt, dass die Physik, als die allgemeine Lehre von
den Bewegungen, in dem ganzen System der Naturlehre die erste
Stelle einnimmt. An zweiter Stelle kommt die Chemie, die nur eine
besondere Gruppe von Bewegungen herausgreift, jene nämlich, welche
durch gegenseitige von der materiellen Beschaffenheit der Theilchen
herrührende Anziehungen bedingt sind und Verbindungen nach regel-
mässigen Zahlenverhältnissen bewirken. Die dritte Stelle gehört der
Physiologie, welche diejenigen physikalischen und chemischen Erschei-
nungen in Betrachtung zieht, die zu dem Leben der Organismen in
Beziehung stehen.

Da alle Erscheinungen, mit denen sich die Physik beschäftigt,5
Die Natur-
kräfte.

auf Bewegungen zurückzuführen sind, so sind auch die Ursachen, die
für die Physik in Betracht kommen, ausschliesslich Bewegungsur-
sachen
. Die Ursache einer Bewegung nennt man nun allgemein eine
Kraft; zum Vorbild dient hierbei die menschliche Muskelkraft, als die
uns in ihrer Wirkung geläufigste. Wir unterscheiden ebenso viel
physikalische Kräfte, als wir Bewegungsursachen in der Natur kennen.
Da aber bei jeder Bewegung die bewegten Dinge entweder sich nä-
hern oder von einander entfernen können, so sind zweierlei Kräfte
möglich, Anziehungs- und Abstossungskräfte, und beide sind
in der Natur zu beobachten. So ist die Schwere eine Anziehungskraft,
die Elektricität lernen wir, je nachdem gleichartige oder ungleichartige
Elektricitäten sich begegnen, als abstossende und als anziehende Kraft
kennen, die Wärme muss, indem sie das Volum der Körper vergrös-
sert, als abstossende Kraft wirken. In diesem letzten Fall haben wir
zugleich das Beispiel einer Kraft vor uns, die nicht zwischen getrenn-
ten Körpern sondern zwischen den Theilchen eines und desselben Kör-
pers wirksam ist. Man bezeichnet Kräfte letzterer Art häufig als
Molecularkräfte, und hiernach werden diejenigen Theile der Physik,
die sich mit den Wirkungen der Molecularkräfte beschäftigen, auch
unter dem Namen der Molecularphysik zusammengefasst. Doch
lässt sich eine Trennung zwischen der Molecularphysik und der Physik
der Körper keineswegs strenge durchführen.



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[5/0027] Einleitung. zung werden aber die letzteren von der Physik ausgeschieden, und ist daher diese als die Wissenschaft zu definiren, welche von den Be- wegungen in der Körperwelt mit Ausnahme jener Bewegungen handelt, die entweder dem Gebiet der chemischen Verwandtschaftsäusserungen angehören oder die Lebenserscheinungen der Organismen zusammen- setzen. Hieraus erhellt, dass die Physik, als die allgemeine Lehre von den Bewegungen, in dem ganzen System der Naturlehre die erste Stelle einnimmt. An zweiter Stelle kommt die Chemie, die nur eine besondere Gruppe von Bewegungen herausgreift, jene nämlich, welche durch gegenseitige von der materiellen Beschaffenheit der Theilchen herrührende Anziehungen bedingt sind und Verbindungen nach regel- mässigen Zahlenverhältnissen bewirken. Die dritte Stelle gehört der Physiologie, welche diejenigen physikalischen und chemischen Erschei- nungen in Betrachtung zieht, die zu dem Leben der Organismen in Beziehung stehen. Da alle Erscheinungen, mit denen sich die Physik beschäftigt, auf Bewegungen zurückzuführen sind, so sind auch die Ursachen, die für die Physik in Betracht kommen, ausschliesslich Bewegungsur- sachen. Die Ursache einer Bewegung nennt man nun allgemein eine Kraft; zum Vorbild dient hierbei die menschliche Muskelkraft, als die uns in ihrer Wirkung geläufigste. Wir unterscheiden ebenso viel physikalische Kräfte, als wir Bewegungsursachen in der Natur kennen. Da aber bei jeder Bewegung die bewegten Dinge entweder sich nä- hern oder von einander entfernen können, so sind zweierlei Kräfte möglich, Anziehungs- und Abstossungskräfte, und beide sind in der Natur zu beobachten. So ist die Schwere eine Anziehungskraft, die Elektricität lernen wir, je nachdem gleichartige oder ungleichartige Elektricitäten sich begegnen, als abstossende und als anziehende Kraft kennen, die Wärme muss, indem sie das Volum der Körper vergrös- sert, als abstossende Kraft wirken. In diesem letzten Fall haben wir zugleich das Beispiel einer Kraft vor uns, die nicht zwischen getrenn- ten Körpern sondern zwischen den Theilchen eines und desselben Kör- pers wirksam ist. Man bezeichnet Kräfte letzterer Art häufig als Molecularkräfte, und hiernach werden diejenigen Theile der Physik, die sich mit den Wirkungen der Molecularkräfte beschäftigen, auch unter dem Namen der Molecularphysik zusammengefasst. Doch lässt sich eine Trennung zwischen der Molecularphysik und der Physik der Körper keineswegs strenge durchführen. 5 Die Natur- kräfte.

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/27>, abgerufen am 19.04.2024.