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Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867.

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wir hier nicht näher ein, da die Erscheinungen, zu welchen diese Abweichungen Ver-
anlassung geben, überwiegend von physiologischer Bedeutung sind. Vergl. Lehrb. der
Physiologie §. 212.

Fünfzehntes Capitel.
Das Mikroskop
.

Die Netzhautbilder von Gegenständen verschiedener Grösse und182
Die Lupe.

Entfernung lassen sich am einfachsten vergleichen, indem man den
Winkel bestimmt, welchen die Richtungsstrahlen der Grenzpunkte des
Objectes mit einander einschliessen. Dieser Winkel wird als Seh-
winkel
bezeichnet, und man kann nun die in Gleichung 2, §. 179
aufgestellte Beziehung zwischen Bild- und Objectgrösse einfach dahin
formuliren, dass die Netzhautbilder von Gegenständen, die unter glei-
chem Sehwinkel erscheinen, gleich gross sind. Sinkt der Gesichts-
winkel unter eine bestimmte sehr kleine Grösse herab, dann können
wir gesonderte Eindrücke, die innerhalb dieser Grösse stattfinden,
nicht mehr unterscheiden. So fliessen uns z. B. zwei ausgespannte
Fäden, die einander sehr nahe rücken, scheinbar in einen zusammen.
Dieser kleinste Gesichtswinkel, der die Grenze unserer Unterschei-
dungsfähigkeit bezeichnet, beträgt 60--90" und entspricht einem Netz-
hautbilde von 0,0043--0,0054 Mm. Hieraus folgt, dass wir an einem
Gegenstand um so mehr die einzelnen Theile, aus denen er besteht,
gesondert auffassen, unter einem je grösseren Gesichtswinkel wir ihn
betrachten; dagegen erscheint jeder noch so ausgedehnte Gegenstand
als ein einziger Punkt, sobald der Gesichtswinkel, unter welchem er
gesehen wird, weniger als die angegebene Grösse beträgt.

Durch die Accomodation sind wir nun in den Stand gesetzt,
von einem und demselben Object unter sehr verschiedenen Sehwinkeln
deutliche Bilder auf unserer Netzhaut entwerfen zu können. Das ge-
wöhnliche Hülfsmittel, das wir zur Unterscheidung der einzelnen Theile
eines Gegenstandes anwenden, besteht daher darin, dass wir densel-
ben möglichst nahe an unser Auge bringen. Jedem Auge ist aber in
dem Nahepunkt seiner Accomodation eine Grenze gesetzt, über die
ein Object nicht genähert werden kann, ohne dass es durch die ent-
stehenden Zerstreuungskreise weit mehr an Deutlichkeit verliert, als
es durch den grössern Gesichtswinkel gewinnen würde. Nun haben
wir in der Sammellinse ein Hülfsmittel kennen gelernt, welches solche
Strahlen, die sonst erst hinter der Netzhaut zur Vereinigung kämen,
auf oder vor derselben zur Vereinigung bringt. Indem die Sammel-
linse gestattet den Gegenstand näher an das Auge heranzubringen,
bewirkt sie daher, dass an demselben noch Einzelheiten erkannt wer-
den können, welche in grösserer Entfernung verschwinden. Ausser-
dem lenkt aber die Sammellinse die Lichtstrahlen von ihrem Wege

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Das Mikroskop.
wir hier nicht näher ein, da die Erscheinungen, zu welchen diese Abweichungen Ver-
anlassung geben, überwiegend von physiologischer Bedeutung sind. Vergl. Lehrb. der
Physiologie §. 212.

Fünfzehntes Capitel.
Das Mikroskop
.

Die Netzhautbilder von Gegenständen verschiedener Grösse und182
Die Lupe.

Entfernung lassen sich am einfachsten vergleichen, indem man den
Winkel bestimmt, welchen die Richtungsstrahlen der Grenzpunkte des
Objectes mit einander einschliessen. Dieser Winkel wird als Seh-
winkel
bezeichnet, und man kann nun die in Gleichung 2, §. 179
aufgestellte Beziehung zwischen Bild- und Objectgrösse einfach dahin
formuliren, dass die Netzhautbilder von Gegenständen, die unter glei-
chem Sehwinkel erscheinen, gleich gross sind. Sinkt der Gesichts-
winkel unter eine bestimmte sehr kleine Grösse herab, dann können
wir gesonderte Eindrücke, die innerhalb dieser Grösse stattfinden,
nicht mehr unterscheiden. So fliessen uns z. B. zwei ausgespannte
Fäden, die einander sehr nahe rücken, scheinbar in einen zusammen.
Dieser kleinste Gesichtswinkel, der die Grenze unserer Unterschei-
dungsfähigkeit bezeichnet, beträgt 60—90″ und entspricht einem Netz-
hautbilde von 0,0043—0,0054 Mm. Hieraus folgt, dass wir an einem
Gegenstand um so mehr die einzelnen Theile, aus denen er besteht,
gesondert auffassen, unter einem je grösseren Gesichtswinkel wir ihn
betrachten; dagegen erscheint jeder noch so ausgedehnte Gegenstand
als ein einziger Punkt, sobald der Gesichtswinkel, unter welchem er
gesehen wird, weniger als die angegebene Grösse beträgt.

Durch die Accomodation sind wir nun in den Stand gesetzt,
von einem und demselben Object unter sehr verschiedenen Sehwinkeln
deutliche Bilder auf unserer Netzhaut entwerfen zu können. Das ge-
wöhnliche Hülfsmittel, das wir zur Unterscheidung der einzelnen Theile
eines Gegenstandes anwenden, besteht daher darin, dass wir densel-
ben möglichst nahe an unser Auge bringen. Jedem Auge ist aber in
dem Nahepunkt seiner Accomodation eine Grenze gesetzt, über die
ein Object nicht genähert werden kann, ohne dass es durch die ent-
stehenden Zerstreuungskreise weit mehr an Deutlichkeit verliert, als
es durch den grössern Gesichtswinkel gewinnen würde. Nun haben
wir in der Sammellinse ein Hülfsmittel kennen gelernt, welches solche
Strahlen, die sonst erst hinter der Netzhaut zur Vereinigung kämen,
auf oder vor derselben zur Vereinigung bringt. Indem die Sammel-
linse gestattet den Gegenstand näher an das Auge heranzubringen,
bewirkt sie daher, dass an demselben noch Einzelheiten erkannt wer-
den können, welche in grösserer Entfernung verschwinden. Ausser-
dem lenkt aber die Sammellinse die Lichtstrahlen von ihrem Wege

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[275/0297] Das Mikroskop. wir hier nicht näher ein, da die Erscheinungen, zu welchen diese Abweichungen Ver- anlassung geben, überwiegend von physiologischer Bedeutung sind. Vergl. Lehrb. der Physiologie §. 212. Fünfzehntes Capitel. Das Mikroskop. Die Netzhautbilder von Gegenständen verschiedener Grösse und Entfernung lassen sich am einfachsten vergleichen, indem man den Winkel bestimmt, welchen die Richtungsstrahlen der Grenzpunkte des Objectes mit einander einschliessen. Dieser Winkel wird als Seh- winkel bezeichnet, und man kann nun die in Gleichung 2, §. 179 aufgestellte Beziehung zwischen Bild- und Objectgrösse einfach dahin formuliren, dass die Netzhautbilder von Gegenständen, die unter glei- chem Sehwinkel erscheinen, gleich gross sind. Sinkt der Gesichts- winkel unter eine bestimmte sehr kleine Grösse herab, dann können wir gesonderte Eindrücke, die innerhalb dieser Grösse stattfinden, nicht mehr unterscheiden. So fliessen uns z. B. zwei ausgespannte Fäden, die einander sehr nahe rücken, scheinbar in einen zusammen. Dieser kleinste Gesichtswinkel, der die Grenze unserer Unterschei- dungsfähigkeit bezeichnet, beträgt 60—90″ und entspricht einem Netz- hautbilde von 0,0043—0,0054 Mm. Hieraus folgt, dass wir an einem Gegenstand um so mehr die einzelnen Theile, aus denen er besteht, gesondert auffassen, unter einem je grösseren Gesichtswinkel wir ihn betrachten; dagegen erscheint jeder noch so ausgedehnte Gegenstand als ein einziger Punkt, sobald der Gesichtswinkel, unter welchem er gesehen wird, weniger als die angegebene Grösse beträgt. 182 Die Lupe. Durch die Accomodation sind wir nun in den Stand gesetzt, von einem und demselben Object unter sehr verschiedenen Sehwinkeln deutliche Bilder auf unserer Netzhaut entwerfen zu können. Das ge- wöhnliche Hülfsmittel, das wir zur Unterscheidung der einzelnen Theile eines Gegenstandes anwenden, besteht daher darin, dass wir densel- ben möglichst nahe an unser Auge bringen. Jedem Auge ist aber in dem Nahepunkt seiner Accomodation eine Grenze gesetzt, über die ein Object nicht genähert werden kann, ohne dass es durch die ent- stehenden Zerstreuungskreise weit mehr an Deutlichkeit verliert, als es durch den grössern Gesichtswinkel gewinnen würde. Nun haben wir in der Sammellinse ein Hülfsmittel kennen gelernt, welches solche Strahlen, die sonst erst hinter der Netzhaut zur Vereinigung kämen, auf oder vor derselben zur Vereinigung bringt. Indem die Sammel- linse gestattet den Gegenstand näher an das Auge heranzubringen, bewirkt sie daher, dass an demselben noch Einzelheiten erkannt wer- den können, welche in grösserer Entfernung verschwinden. Ausser- dem lenkt aber die Sammellinse die Lichtstrahlen von ihrem Wege 18 *

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/297>, abgerufen am 19.04.2024.