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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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IV. Die Opposition des modernen Naturalismus.
desto größer die Barbarei. Den Urzustand müsse ein Zeitalter
thierischer Wildheit gebildet haben, "wo die in Wald und Feld zer-
streut lebenden Menschen gleich reißenden Thieren nur eben das
erwarben und besaßen, was sie mit Gewalt an sich gerissen".1)
Nicht ein zunehmender Verfall der Menschheit sei zu lehren, sondern
ein stetiges Fortschreiten durch Erfindungen, Künste, Wissenschaften etc.
Auch sei die Geschichte nicht nothwendig in den knappen Rahmen
von sechs Jahrtausenden einzupressen; es sei einerlei, ob man sechs-
tausend Jahre mit darauf folgendem Sabbath-Jahrtausend annehme,
oder neunundvierzig Tausend nebst darauf folgendem Jubel-Jahr-
tausend, u. s. f. -- Montaigne empfahl diese Schrift seines Zeit-
genossen und Geistesverwandten; die Annahme eines Zustands
ursprünglicher Wildheit der Menschen war auch ihm vertraut. Er
gefiel sich in thierpsychologischen Vergleichen, meinte, die Thiere
zeigten so viel und oft mehr Vernunft als die Menschen. Auch bei
den Naturrechts-Lehrern Alberich Gentilis (+ 1608) und Hugo Gro-
tius (+ 1645) sieht man die Bodinschen Anschauungen weitere Pflege
und Verarbeitung erfahren. Doch strebt der Letztere nach Aus-
gleichung mit der Kirchenlehre; goldnes Zeitalter oder Paradies
sammt den hohen Lebensaltern der ältesten Patriarchen werden in
seinem apologetischen Büchlein "Von der Wahrheit der christlichen
Religion" mittelst Zusammenstellung zahlreicher Zeugnisse aus dem
Heidenthum angelegentlich vertheidigt.2)

Viel weiter in Naturalisirung des Urstandes als alle bisher
Genannten ging Hobbes. Sein roher Sensualismus läßt über-
haupt alles Geistige im Sinnlichen wurzeln; "es gibt keinen Begriff
im Geiste des Menschen, der nicht vorher ganz oder zum Theil aus
den Sinnesorganen erzeugt worden wäre". So ist denn auch fürs
Gesammtleben der Menschheit ein wilder Naturzustand das Ur-
sprüngliche; ein "Krieg Aller gegen Alle", ein Zustand, "wo jeder

1) "quibus homines ferarum more in agris ac silvis dispersi tantum
haberent, quantum per vim et nefas retinere possent."
2) Vgl. oben, S. 100.

IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus.
deſto größer die Barbarei. Den Urzuſtand müſſe ein Zeitalter
thieriſcher Wildheit gebildet haben, „wo die in Wald und Feld zer-
ſtreut lebenden Menſchen gleich reißenden Thieren nur eben das
erwarben und beſaßen, was ſie mit Gewalt an ſich geriſſen‟.1)
Nicht ein zunehmender Verfall der Menſchheit ſei zu lehren, ſondern
ein ſtetiges Fortſchreiten durch Erfindungen, Künſte, Wiſſenſchaften ꝛc.
Auch ſei die Geſchichte nicht nothwendig in den knappen Rahmen
von ſechs Jahrtauſenden einzupreſſen; es ſei einerlei, ob man ſechs-
tauſend Jahre mit darauf folgendem Sabbath-Jahrtauſend annehme,
oder neunundvierzig Tauſend nebſt darauf folgendem Jubel-Jahr-
tauſend, u. ſ. f. — Montaigne empfahl dieſe Schrift ſeines Zeit-
genoſſen und Geiſtesverwandten; die Annahme eines Zuſtands
urſprünglicher Wildheit der Menſchen war auch ihm vertraut. Er
gefiel ſich in thierpſychologiſchen Vergleichen, meinte, die Thiere
zeigten ſo viel und oft mehr Vernunft als die Menſchen. Auch bei
den Naturrechts-Lehrern Alberich Gentilis († 1608) und Hugo Gro-
tius († 1645) ſieht man die Bodinſchen Anſchauungen weitere Pflege
und Verarbeitung erfahren. Doch ſtrebt der Letztere nach Aus-
gleichung mit der Kirchenlehre; goldnes Zeitalter oder Paradies
ſammt den hohen Lebensaltern der älteſten Patriarchen werden in
ſeinem apologetiſchen Büchlein „Von der Wahrheit der chriſtlichen
Religion‟ mittelſt Zuſammenſtellung zahlreicher Zeugniſſe aus dem
Heidenthum angelegentlich vertheidigt.2)

Viel weiter in Naturaliſirung des Urſtandes als alle bisher
Genannten ging Hobbes. Sein roher Senſualismus läßt über-
haupt alles Geiſtige im Sinnlichen wurzeln; „es gibt keinen Begriff
im Geiſte des Menſchen, der nicht vorher ganz oder zum Theil aus
den Sinnesorganen erzeugt worden wäre‟. So iſt denn auch fürs
Geſammtleben der Menſchheit ein wilder Naturzuſtand das Ur-
ſprüngliche; ein „Krieg Aller gegen Alle‟, ein Zuſtand, „wo jeder

1) „quibus homines ferarum more in agris ac silvis dispersi tantum
haberent, quantum per vim et nefas retinere possent.‟
2) Vgl. oben, S. 100.
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[114/0124] IV. Die Oppoſition des modernen Naturalismus. deſto größer die Barbarei. Den Urzuſtand müſſe ein Zeitalter thieriſcher Wildheit gebildet haben, „wo die in Wald und Feld zer- ſtreut lebenden Menſchen gleich reißenden Thieren nur eben das erwarben und beſaßen, was ſie mit Gewalt an ſich geriſſen‟. 1) Nicht ein zunehmender Verfall der Menſchheit ſei zu lehren, ſondern ein ſtetiges Fortſchreiten durch Erfindungen, Künſte, Wiſſenſchaften ꝛc. Auch ſei die Geſchichte nicht nothwendig in den knappen Rahmen von ſechs Jahrtauſenden einzupreſſen; es ſei einerlei, ob man ſechs- tauſend Jahre mit darauf folgendem Sabbath-Jahrtauſend annehme, oder neunundvierzig Tauſend nebſt darauf folgendem Jubel-Jahr- tauſend, u. ſ. f. — Montaigne empfahl dieſe Schrift ſeines Zeit- genoſſen und Geiſtesverwandten; die Annahme eines Zuſtands urſprünglicher Wildheit der Menſchen war auch ihm vertraut. Er gefiel ſich in thierpſychologiſchen Vergleichen, meinte, die Thiere zeigten ſo viel und oft mehr Vernunft als die Menſchen. Auch bei den Naturrechts-Lehrern Alberich Gentilis († 1608) und Hugo Gro- tius († 1645) ſieht man die Bodinſchen Anſchauungen weitere Pflege und Verarbeitung erfahren. Doch ſtrebt der Letztere nach Aus- gleichung mit der Kirchenlehre; goldnes Zeitalter oder Paradies ſammt den hohen Lebensaltern der älteſten Patriarchen werden in ſeinem apologetiſchen Büchlein „Von der Wahrheit der chriſtlichen Religion‟ mittelſt Zuſammenſtellung zahlreicher Zeugniſſe aus dem Heidenthum angelegentlich vertheidigt. 2) Viel weiter in Naturaliſirung des Urſtandes als alle bisher Genannten ging Hobbes. Sein roher Senſualismus läßt über- haupt alles Geiſtige im Sinnlichen wurzeln; „es gibt keinen Begriff im Geiſte des Menſchen, der nicht vorher ganz oder zum Theil aus den Sinnesorganen erzeugt worden wäre‟. So iſt denn auch fürs Geſammtleben der Menſchheit ein wilder Naturzuſtand das Ur- ſprüngliche; ein „Krieg Aller gegen Alle‟, ein Zuſtand, „wo jeder 1) „quibus homines ferarum more in agris ac silvis dispersi tantum haberent, quantum per vim et nefas retinere possent.‟ 2) Vgl. oben, S. 100.

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/124>, abgerufen am 25.04.2024.