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Breitscheid, Tony: Die Notwendigkeit der Forderung des allgemeinen, gleichen, direkten, geheimen Wahlrechts (= Schriften des Preußischen Landesvereins für Frauenstimmrecht, Bd. 4). Berlin, 1909.

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Arbeitern und Angestellten also nur die Wahl, entweder gegen ihre
Überzeugung oder überhaupt nicht zu wählen.

Die Folge ist denn auch eine sehr schlechte Wahlbeteiligung und
die Tatsache, daß die Mehrheitsverhältnisse im Abgeordnetenhause so
ganz andere sind als die des deutschen Reichstages: Dazu kommt
noch eine starke Bevorzugung des platten Landes gegenüber den mehr-
bevölkerten Städten durch eine veraltete Wahlkreiseinteilung. Wie
die Einteilung der Wähler in drei Steuerklassen wirkt, von denen
jede gleich viel Wahlmänner zu wählen hat, einerlei ob in einer
Klasse ein Wähler oder hunderte wählen, zeigt am besten die Tatsache,
daß bei der Landtagswahl im Jahre 1903 - über die Wahl von
1908 ist die amtliche Statistik noch nicht erschienen - die Sozial-
demokratie in Berlin 122150 Urwählerstimmen aufbrachte und doch nur
2377 Wahlmänner erzielte, während alle anderen Parteien zusammen mit
nur 56229 Urwählerstimmen es auf 4282 Wahlmänner brachten.
Die Sozialdemokratie gewann damals nicht ein einziges Mandat, und
dies Resultat ist einzig und allein der Tatsache zuzuschreiben, daß die
anderen Parteien mehr Wähler der ersten oder zweiten Steuerklasse
haben, während die Sozialdemokratie in der Hauptsache auf die dritte
Klasse, die Klasse der minder- und gänzlich unbemittelten angewiesen
ist. Die wenigen Wähler der ersten und zweiten Klasse können, wenn
sie zusammengehen, stets das Wahlresultat bestimmen. Die Masse
der Wähler dritter Klasse kann nur dann Einfluß auf das Resultat
ausüben, wenn in der ersten und zweiten Klasse die Stimmen sich
zersplittern oder die Majorität einer der beiden Klassen mit der Ma-
jorität der 3. Klasse geht.-Das ist aber natürlich nur selten der
Fall, und wenn auch bei den letzten Landtagswahlen die Sozial-
demokratie mit harter Anstrengung ein paar Mandate erobert hat, so
bleibt die Tatsache doch bestehen, daß die Verteilung der Sitze im
Abgeordnetenhause eine höchst ungerechte ist und in keiner Weise dem
Volkswillen und der Zusammensetzung des Volkes entspricht.

Wie würden nun die Aussichten der Frauen sein, wenn ihnen
wirklich das Wahlrecht, so wie es in Preußen besteht, gegeben würde?
Falls nicht durch eine besondere Gesetzesbestimmung den Ehefrauen
die Steuern, die ihre Männer entrichten, ausdrücklich angerechnet
würden, müßten alle die, die kein eigenes Vermögen haben und nicht
in Gütertrennung leben, in der dritten Klasse wählen, ihnen würde
nur ein fingierter Steuerbetrag angerechnet. Sie würden also nur
die Zahl der Einflußlosen verstärken.

Aber die große Zahl der erwerbstätigen selbständigen Frauen

Arbeitern und Angestellten also nur die Wahl, entweder gegen ihre
Überzeugung oder überhaupt nicht zu wählen.

Die Folge ist denn auch eine sehr schlechte Wahlbeteiligung und
die Tatsache, daß die Mehrheitsverhältnisse im Abgeordnetenhause so
ganz andere sind als die des deutschen Reichstages: Dazu kommt
noch eine starke Bevorzugung des platten Landes gegenüber den mehr-
bevölkerten Städten durch eine veraltete Wahlkreiseinteilung. Wie
die Einteilung der Wähler in drei Steuerklassen wirkt, von denen
jede gleich viel Wahlmänner zu wählen hat, einerlei ob in einer
Klasse ein Wähler oder hunderte wählen, zeigt am besten die Tatsache,
daß bei der Landtagswahl im Jahre 1903 – über die Wahl von
1908 ist die amtliche Statistik noch nicht erschienen – die Sozial-
demokratie in Berlin 122150 Urwählerstimmen aufbrachte und doch nur
2377 Wahlmänner erzielte, während alle anderen Parteien zusammen mit
nur 56229 Urwählerstimmen es auf 4282 Wahlmänner brachten.
Die Sozialdemokratie gewann damals nicht ein einziges Mandat, und
dies Resultat ist einzig und allein der Tatsache zuzuschreiben, daß die
anderen Parteien mehr Wähler der ersten oder zweiten Steuerklasse
haben, während die Sozialdemokratie in der Hauptsache auf die dritte
Klasse, die Klasse der minder- und gänzlich unbemittelten angewiesen
ist. Die wenigen Wähler der ersten und zweiten Klasse können, wenn
sie zusammengehen, stets das Wahlresultat bestimmen. Die Masse
der Wähler dritter Klasse kann nur dann Einfluß auf das Resultat
ausüben, wenn in der ersten und zweiten Klasse die Stimmen sich
zersplittern oder die Majorität einer der beiden Klassen mit der Ma-
jorität der 3. Klasse geht.–Das ist aber natürlich nur selten der
Fall, und wenn auch bei den letzten Landtagswahlen die Sozial-
demokratie mit harter Anstrengung ein paar Mandate erobert hat, so
bleibt die Tatsache doch bestehen, daß die Verteilung der Sitze im
Abgeordnetenhause eine höchst ungerechte ist und in keiner Weise dem
Volkswillen und der Zusammensetzung des Volkes entspricht.

Wie würden nun die Aussichten der Frauen sein, wenn ihnen
wirklich das Wahlrecht, so wie es in Preußen besteht, gegeben würde?
Falls nicht durch eine besondere Gesetzesbestimmung den Ehefrauen
die Steuern, die ihre Männer entrichten, ausdrücklich angerechnet
würden, müßten alle die, die kein eigenes Vermögen haben und nicht
in Gütertrennung leben, in der dritten Klasse wählen, ihnen würde
nur ein fingierter Steuerbetrag angerechnet. Sie würden also nur
die Zahl der Einflußlosen verstärken.

Aber die große Zahl der erwerbstätigen selbständigen Frauen

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[4/0006] Arbeitern und Angestellten also nur die Wahl, entweder gegen ihre Überzeugung oder überhaupt nicht zu wählen. Die Folge ist denn auch eine sehr schlechte Wahlbeteiligung und die Tatsache, daß die Mehrheitsverhältnisse im Abgeordnetenhause so ganz andere sind als die des deutschen Reichstages: Dazu kommt noch eine starke Bevorzugung des platten Landes gegenüber den mehr- bevölkerten Städten durch eine veraltete Wahlkreiseinteilung. Wie die Einteilung der Wähler in drei Steuerklassen wirkt, von denen jede gleich viel Wahlmänner zu wählen hat, einerlei ob in einer Klasse ein Wähler oder hunderte wählen, zeigt am besten die Tatsache, daß bei der Landtagswahl im Jahre 1903 – über die Wahl von 1908 ist die amtliche Statistik noch nicht erschienen – die Sozial- demokratie in Berlin 122150 Urwählerstimmen aufbrachte und doch nur 2377 Wahlmänner erzielte, während alle anderen Parteien zusammen mit nur 56229 Urwählerstimmen es auf 4282 Wahlmänner brachten. Die Sozialdemokratie gewann damals nicht ein einziges Mandat, und dies Resultat ist einzig und allein der Tatsache zuzuschreiben, daß die anderen Parteien mehr Wähler der ersten oder zweiten Steuerklasse haben, während die Sozialdemokratie in der Hauptsache auf die dritte Klasse, die Klasse der minder- und gänzlich unbemittelten angewiesen ist. Die wenigen Wähler der ersten und zweiten Klasse können, wenn sie zusammengehen, stets das Wahlresultat bestimmen. Die Masse der Wähler dritter Klasse kann nur dann Einfluß auf das Resultat ausüben, wenn in der ersten und zweiten Klasse die Stimmen sich zersplittern oder die Majorität einer der beiden Klassen mit der Ma- jorität der 3. Klasse geht.–Das ist aber natürlich nur selten der Fall, und wenn auch bei den letzten Landtagswahlen die Sozial- demokratie mit harter Anstrengung ein paar Mandate erobert hat, so bleibt die Tatsache doch bestehen, daß die Verteilung der Sitze im Abgeordnetenhause eine höchst ungerechte ist und in keiner Weise dem Volkswillen und der Zusammensetzung des Volkes entspricht. Wie würden nun die Aussichten der Frauen sein, wenn ihnen wirklich das Wahlrecht, so wie es in Preußen besteht, gegeben würde? Falls nicht durch eine besondere Gesetzesbestimmung den Ehefrauen die Steuern, die ihre Männer entrichten, ausdrücklich angerechnet würden, müßten alle die, die kein eigenes Vermögen haben und nicht in Gütertrennung leben, in der dritten Klasse wählen, ihnen würde nur ein fingierter Steuerbetrag angerechnet. Sie würden also nur die Zahl der Einflußlosen verstärken. Aber die große Zahl der erwerbstätigen selbständigen Frauen

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Texte der ersten Frauenbewegung, betreut von Anna Pfundt und Thomas Gloning, JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-10-19T09:11:18Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-10-19T09:11:18Z)

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Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: keine Angabe; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: keine Angabe; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine Angabe; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: wie Vorlage; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




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Zitationshilfe: Breitscheid, Tony: Die Notwendigkeit der Forderung des allgemeinen, gleichen, direkten, geheimen Wahlrechts (= Schriften des Preußischen Landesvereins für Frauenstimmrecht, Bd. 4). Berlin, 1909, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/breitscheid_notwendigkeit_1909/6>, abgerufen am 28.03.2024.