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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887.

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§ 2. Die Gliederung des Stoffes.
schichte der in der Gegenwart lebenden Rechtsinstitute beschränken,
um etwa den Rechtsaltertümern die bereits abgestorbenen Rechts-
einrichtungen zu überlassen, denn auch letztere spielen ihre Rolle
in dem Werdeprozess des Rechtes und bei den innigen Wechsel-
beziehungen, welche zwischen den gleichzeitigen Rechtsinstituten der
Vergangenheit obwalten, wäre es schlechterdings unmöglich, aus dem
mehr wie tausendjährigen Gewebe der deutschen Rechtsgeschichte nur
die bis zur Gegenwart fortlaufenden Fäden auszulösen.

Wie alle Geschichte arbeitet auch die Rechtsgeschichte an dem
erhabenen Problem der Selbsterkenntnis der Menschheit. Sie hat
daher die Berechtigung ihrer Existenz in sich selbst und braucht sie
nicht erst durch den Nutzen zu begründen, welchen das Verständnis
des heutigen Rechtes aus ihr zu schöpfen vermag. Neben dieser
Auffassung hat aber noch eine andere, eine praktische Erwägung
Platz, die bei dem wissenschaftlichen Aufbau der deutschen Rechts-
geschichte in erster Linie massgebend war. Da alles, was da ist, nur
verstanden werden kann, wenn man weiss, wie es geworden, wäre es
eine Selbsttäuschung, zu glauben, dass man das geltende Recht ohne
Betrachtung seiner geschichtlichen Grundlagen zu erkennen vermöge.
Erst durch die Rechtsgeschichte, welche die Gegenwart des Rechtes
aus seiner Vergangenheit heraus erklärt, gelangt man zum wissen-
schaftlichen Verständnisse des bestehenden Rechtes. Unter diesem
Gesichtspunkte ist die deutsche Rechtsgeschichte nicht nur das un-
entbehrliche Fundament der gesamten deutschen Rechtswissenschaft,
sondern ragt ihre Bedeutung noch über das heutige Geltungsgebiet
des deutschen Rechtes hinaus. Bei der Stellung, welche das deutsche
Recht zu seinen Tochterrechten und zu seinen Schwesterrechten ein-
nahm, bei dem unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss, den es auf die
Rechtsbildung des Ostens ausübte, bildet die deutsche Rechtsgeschichte
recht eigentlich den Ausgangspunkt für die geschichtliche Erkenntnis
der Rechtszustände ganz Europas und seiner Kolonien.

§ 2. Die Gliederung des Stoffes.

Die Geschichte des Rechtes kann nach der historischen oder
nach der systematischen Methode gegliedert werden. Erstere nimmt
zum obersten Einteilungsgrunde die hervorragendsten Marksteine der
Rechtsentwicklung, teilt nach ihnen die Rechtsgeschichte in bestimmte
Perioden ein und stellt innerhalb jeder einzelnen Periode den ihr zu-
gehörigen Rechtsstoff in systematischer Ordnung dar. Die systematische
Methode geht von der Unterscheidung der einzelnen Rechtsinstitute

§ 2. Die Gliederung des Stoffes.
schichte der in der Gegenwart lebenden Rechtsinstitute beschränken,
um etwa den Rechtsaltertümern die bereits abgestorbenen Rechts-
einrichtungen zu überlassen, denn auch letztere spielen ihre Rolle
in dem Werdeprozeſs des Rechtes und bei den innigen Wechsel-
beziehungen, welche zwischen den gleichzeitigen Rechtsinstituten der
Vergangenheit obwalten, wäre es schlechterdings unmöglich, aus dem
mehr wie tausendjährigen Gewebe der deutschen Rechtsgeschichte nur
die bis zur Gegenwart fortlaufenden Fäden auszulösen.

Wie alle Geschichte arbeitet auch die Rechtsgeschichte an dem
erhabenen Problem der Selbsterkenntnis der Menschheit. Sie hat
daher die Berechtigung ihrer Existenz in sich selbst und braucht sie
nicht erst durch den Nutzen zu begründen, welchen das Verständnis
des heutigen Rechtes aus ihr zu schöpfen vermag. Neben dieser
Auffassung hat aber noch eine andere, eine praktische Erwägung
Platz, die bei dem wissenschaftlichen Aufbau der deutschen Rechts-
geschichte in erster Linie maſsgebend war. Da alles, was da ist, nur
verstanden werden kann, wenn man weiſs, wie es geworden, wäre es
eine Selbsttäuschung, zu glauben, daſs man das geltende Recht ohne
Betrachtung seiner geschichtlichen Grundlagen zu erkennen vermöge.
Erst durch die Rechtsgeschichte, welche die Gegenwart des Rechtes
aus seiner Vergangenheit heraus erklärt, gelangt man zum wissen-
schaftlichen Verständnisse des bestehenden Rechtes. Unter diesem
Gesichtspunkte ist die deutsche Rechtsgeschichte nicht nur das un-
entbehrliche Fundament der gesamten deutschen Rechtswissenschaft,
sondern ragt ihre Bedeutung noch über das heutige Geltungsgebiet
des deutschen Rechtes hinaus. Bei der Stellung, welche das deutsche
Recht zu seinen Tochterrechten und zu seinen Schwesterrechten ein-
nahm, bei dem unmittelbaren oder mittelbaren Einfluſs, den es auf die
Rechtsbildung des Ostens ausübte, bildet die deutsche Rechtsgeschichte
recht eigentlich den Ausgangspunkt für die geschichtliche Erkenntnis
der Rechtszustände ganz Europas und seiner Kolonien.

§ 2. Die Gliederung des Stoffes.

Die Geschichte des Rechtes kann nach der historischen oder
nach der systematischen Methode gegliedert werden. Erstere nimmt
zum obersten Einteilungsgrunde die hervorragendsten Marksteine der
Rechtsentwicklung, teilt nach ihnen die Rechtsgeschichte in bestimmte
Perioden ein und stellt innerhalb jeder einzelnen Periode den ihr zu-
gehörigen Rechtsstoff in systematischer Ordnung dar. Die systematische
Methode geht von der Unterscheidung der einzelnen Rechtsinstitute

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[4/0022] § 2. Die Gliederung des Stoffes. schichte der in der Gegenwart lebenden Rechtsinstitute beschränken, um etwa den Rechtsaltertümern die bereits abgestorbenen Rechts- einrichtungen zu überlassen, denn auch letztere spielen ihre Rolle in dem Werdeprozeſs des Rechtes und bei den innigen Wechsel- beziehungen, welche zwischen den gleichzeitigen Rechtsinstituten der Vergangenheit obwalten, wäre es schlechterdings unmöglich, aus dem mehr wie tausendjährigen Gewebe der deutschen Rechtsgeschichte nur die bis zur Gegenwart fortlaufenden Fäden auszulösen. Wie alle Geschichte arbeitet auch die Rechtsgeschichte an dem erhabenen Problem der Selbsterkenntnis der Menschheit. Sie hat daher die Berechtigung ihrer Existenz in sich selbst und braucht sie nicht erst durch den Nutzen zu begründen, welchen das Verständnis des heutigen Rechtes aus ihr zu schöpfen vermag. Neben dieser Auffassung hat aber noch eine andere, eine praktische Erwägung Platz, die bei dem wissenschaftlichen Aufbau der deutschen Rechts- geschichte in erster Linie maſsgebend war. Da alles, was da ist, nur verstanden werden kann, wenn man weiſs, wie es geworden, wäre es eine Selbsttäuschung, zu glauben, daſs man das geltende Recht ohne Betrachtung seiner geschichtlichen Grundlagen zu erkennen vermöge. Erst durch die Rechtsgeschichte, welche die Gegenwart des Rechtes aus seiner Vergangenheit heraus erklärt, gelangt man zum wissen- schaftlichen Verständnisse des bestehenden Rechtes. Unter diesem Gesichtspunkte ist die deutsche Rechtsgeschichte nicht nur das un- entbehrliche Fundament der gesamten deutschen Rechtswissenschaft, sondern ragt ihre Bedeutung noch über das heutige Geltungsgebiet des deutschen Rechtes hinaus. Bei der Stellung, welche das deutsche Recht zu seinen Tochterrechten und zu seinen Schwesterrechten ein- nahm, bei dem unmittelbaren oder mittelbaren Einfluſs, den es auf die Rechtsbildung des Ostens ausübte, bildet die deutsche Rechtsgeschichte recht eigentlich den Ausgangspunkt für die geschichtliche Erkenntnis der Rechtszustände ganz Europas und seiner Kolonien. § 2. Die Gliederung des Stoffes. Die Geschichte des Rechtes kann nach der historischen oder nach der systematischen Methode gegliedert werden. Erstere nimmt zum obersten Einteilungsgrunde die hervorragendsten Marksteine der Rechtsentwicklung, teilt nach ihnen die Rechtsgeschichte in bestimmte Perioden ein und stellt innerhalb jeder einzelnen Periode den ihr zu- gehörigen Rechtsstoff in systematischer Ordnung dar. Die systematische Methode geht von der Unterscheidung der einzelnen Rechtsinstitute

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 1. Leipzig, 1887, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte01_1887/22>, abgerufen am 28.03.2024.