Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

Bild:
<< vorherige Seite
§ 106. Die Gottesurteile.

Eine scheinbare Mittelstellung zwischen Zeugen und Eidhelfern
nehmen die nachmals sogen. Schreimannen ein, Eidhelfer im Verfahren
um handhafte That. Es sind Nachbarn, die das Gerüfte vernommen
haben und ihm gefolgt sind. Sie schwuren aber nicht einen Zeugen-,
sondern einen Helfereid, zu dem sie als 'visores et cognitores' zuge-
lassen wurden 51, und erscheinen sonach als Helfer, von denen sich aus
der Sachlage ergab, dass ihnen der Thatbestand durch Wahrnehmung
bekannt sei. Da ihr Eid sich nicht auf eigene Wahrnehmung beruft,
unterscheiden sie sich grundsätzlich nicht von anderen Eidhelfern.
Dass sie visores et cognitores sind, legitimiert sie als Eidhelfer, wie
andere Eidhelfer die Blutsverwandtschaft, die Nachbarschaft legitimiert,
weil bei den Verwandten, bei den Nachbarn die beste Kunde der
Vorgänge und Verhältnisse vorausgesetzt wird, die dem Beweisthema
zu Grunde liegen. Sachlich stehen allerdings die Helfer im Verfahren
um handhafte That den Zeugen am nächsten, wie sie denn auch in
der folgenden Periode wahre Zeugen geworden sind und sich nachmals
aus dieser Art von Eideshilfe ein materielles Beweisverfahren in Straf-
sachen ausgebildet hat.

§ 106. Die Gottesurteile.

Siehe die Litteratur zu § 23 oben I 177 f. Dreyer, Versuch einer Abhandlung
von dem Nutzen der heidnischen Gottesgelahrtheit in dessen Vermischten Abh.
II 828 ff. Grimm, RA S. 908 ff. 119. Noordewier S. 435. v. Amira, Recht
S. 197. Konrad Maurer, Kr. Ü. V 213 ff. Phillips, Vermischte Schriften
1856, I 122. 467. Glasson, Histoire III 505. Henry Lee, Superstition and
Force, Essays on the wager of law, the wager of battle, the ordeal, torture, Phila-
delphia 1866, eine sorgfältige Arbeit, die es nicht verdient, allgemein übersehen
zu werden. Federico Patetta, Le ordalie, Studio di storia del diritto e scienza
del diritto comparato, Torino 1890, eine vortreffliche, den Gegenstand gründlich
erörternde Monographie. Kaegi, Alter und Herkunft des germanischen Gottes-
urteils 1887. Kohler, Studien über die Ordalien der Naturvölker, Z. f. vergl.
RW V 368. Derselbe, Altindisches Prozessrecht 1891, S. 40 f. Zorn, Beweis-
verfahren nach langob. Recht S. 39. Schmid, Ges. der Ags. S. 639. Ficker,
Über gothisch-spanisches .. Recht in den Mitth. des Instituts für österr. Gf., Er-

Allein der cancellarius schwört dabei auch in eigener Sache; denn er verteidigt
sich gegen den Vorwurf, eine falsche Urkunde ausgefertigt zu haben.
51 Form. Tur. 30. Das Urteil lautet, dass jemand, der einen anderen in
Notwehr erschlagen und die That verklart hatte, 'manu sua trigesima septima' mit
(36) 'homines visores et cognitores' schwören solle. In der Notitia über den Eid,
Form. Turon. 31, heisst es: similiter testes sibi similes, visores et cognitores ..
post ipsum iuraverunt, ut quicquid .. ille de hac causa iuravit, verum et idoneum
sacramentum dedit.
§ 106. Die Gottesurteile.

Eine scheinbare Mittelstellung zwischen Zeugen und Eidhelfern
nehmen die nachmals sogen. Schreimannen ein, Eidhelfer im Verfahren
um handhafte That. Es sind Nachbarn, die das Gerüfte vernommen
haben und ihm gefolgt sind. Sie schwuren aber nicht einen Zeugen-,
sondern einen Helfereid, zu dem sie als ‘visores et cognitores’ zuge-
lassen wurden 51, und erscheinen sonach als Helfer, von denen sich aus
der Sachlage ergab, daſs ihnen der Thatbestand durch Wahrnehmung
bekannt sei. Da ihr Eid sich nicht auf eigene Wahrnehmung beruft,
unterscheiden sie sich grundsätzlich nicht von anderen Eidhelfern.
Daſs sie visores et cognitores sind, legitimiert sie als Eidhelfer, wie
andere Eidhelfer die Blutsverwandtschaft, die Nachbarschaft legitimiert,
weil bei den Verwandten, bei den Nachbarn die beste Kunde der
Vorgänge und Verhältnisse vorausgesetzt wird, die dem Beweisthema
zu Grunde liegen. Sachlich stehen allerdings die Helfer im Verfahren
um handhafte That den Zeugen am nächsten, wie sie denn auch in
der folgenden Periode wahre Zeugen geworden sind und sich nachmals
aus dieser Art von Eideshilfe ein materielles Beweisverfahren in Straf-
sachen ausgebildet hat.

§ 106. Die Gottesurteile.

Siehe die Litteratur zu § 23 oben I 177 f. Dreyer, Versuch einer Abhandlung
von dem Nutzen der heidnischen Gottesgelahrtheit in dessen Vermischten Abh.
II 828 ff. Grimm, RA S. 908 ff. 119. Noordewier S. 435. v. Amira, Recht
S. 197. Konrad Maurer, Kr. Ü. V 213 ff. Phillips, Vermischte Schriften
1856, I 122. 467. Glasson, Histoire III 505. Henry Lee, Superstition and
Force, Essays on the wager of law, the wager of battle, the ordeal, torture, Phila-
delphia 1866, eine sorgfältige Arbeit, die es nicht verdient, allgemein übersehen
zu werden. Federico Patetta, Le ordalie, Studio di storia del diritto e scienza
del diritto comparato, Torino 1890, eine vortreffliche, den Gegenstand gründlich
erörternde Monographie. Kaegi, Alter und Herkunft des germanischen Gottes-
urteils 1887. Kohler, Studien über die Ordalien der Naturvölker, Z. f. vergl.
RW V 368. Derselbe, Altindisches Prozeſsrecht 1891, S. 40 f. Zorn, Beweis-
verfahren nach langob. Recht S. 39. Schmid, Ges. der Ags. S. 639. Ficker,
Über gothisch-spanisches .. Recht in den Mitth. des Instituts für österr. Gf., Er-

Allein der cancellarius schwört dabei auch in eigener Sache; denn er verteidigt
sich gegen den Vorwurf, eine falsche Urkunde ausgefertigt zu haben.
51 Form. Tur. 30. Das Urteil lautet, daſs jemand, der einen anderen in
Notwehr erschlagen und die That verklart hatte, ‘manu sua trigesima septima’ mit
(36) ‘homines visores et cognitores’ schwören solle. In der Notitia über den Eid,
Form. Turon. 31, heiſst es: similiter testes sibi similes, visores et cognitores ..
post ipsum iuraverunt, ut quicquid .. ille de hac causa iuravit, verum et idoneum
sacramentum dedit.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0417" n="399"/>
              <fw place="top" type="header">§ 106. Die Gottesurteile.</fw><lb/>
              <p>Eine scheinbare Mittelstellung zwischen Zeugen und Eidhelfern<lb/>
nehmen die nachmals sogen. Schreimannen ein, Eidhelfer im Verfahren<lb/>
um handhafte That. Es sind Nachbarn, die das Gerüfte vernommen<lb/>
haben und ihm gefolgt sind. Sie schwuren aber nicht einen Zeugen-,<lb/>
sondern einen Helfereid, zu dem sie als &#x2018;visores et cognitores&#x2019; zuge-<lb/>
lassen wurden <note place="foot" n="51">Form. Tur. 30. Das Urteil lautet, da&#x017F;s jemand, der einen anderen in<lb/>
Notwehr erschlagen und die That verklart hatte, &#x2018;manu sua trigesima septima&#x2019; mit<lb/>
(36) &#x2018;homines visores et cognitores&#x2019; schwören solle. In der Notitia über den Eid,<lb/>
Form. Turon. 31, hei&#x017F;st es: similiter testes sibi similes, visores et cognitores ..<lb/>
post ipsum iuraverunt, ut quicquid .. ille de hac causa iuravit, verum et idoneum<lb/>
sacramentum dedit.</note>, und erscheinen sonach als Helfer, von denen sich aus<lb/>
der Sachlage ergab, da&#x017F;s ihnen der Thatbestand durch Wahrnehmung<lb/>
bekannt sei. Da ihr Eid sich nicht auf eigene Wahrnehmung <hi rendition="#g">beruft,</hi><lb/>
unterscheiden sie sich grundsätzlich nicht von anderen Eidhelfern.<lb/>
Da&#x017F;s sie visores et cognitores sind, legitimiert sie als Eidhelfer, wie<lb/>
andere Eidhelfer die Blutsverwandtschaft, die Nachbarschaft legitimiert,<lb/>
weil bei den Verwandten, bei den Nachbarn die beste Kunde der<lb/>
Vorgänge und Verhältnisse vorausgesetzt wird, die dem Beweisthema<lb/>
zu Grunde liegen. Sachlich stehen allerdings die Helfer im Verfahren<lb/>
um handhafte That den Zeugen am nächsten, wie sie denn auch in<lb/>
der folgenden Periode wahre Zeugen geworden sind und sich nachmals<lb/>
aus dieser Art von Eideshilfe ein materielles Beweisverfahren in Straf-<lb/>
sachen ausgebildet hat.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§ 106. <hi rendition="#g">Die Gottesurteile.</hi></head><lb/>
              <p>
                <bibl>Siehe die Litteratur zu § 23 oben I 177 f. <hi rendition="#g">Dreyer,</hi> Versuch einer Abhandlung<lb/>
von dem Nutzen der heidnischen Gottesgelahrtheit in dessen Vermischten Abh.<lb/>
II 828 ff. <hi rendition="#g">Grimm,</hi> RA S. 908 ff. 119. <hi rendition="#g">Noordewier</hi> S. 435. v. <hi rendition="#g">Amira,</hi> Recht<lb/>
S. 197. <hi rendition="#g">Konrad Maurer,</hi> Kr. Ü. V 213 ff. <hi rendition="#g">Phillips,</hi> Vermischte Schriften<lb/>
1856, I 122. 467. <hi rendition="#g">Glasson,</hi> Histoire III 505. <hi rendition="#g">Henry Lee,</hi> Superstition and<lb/>
Force, Essays on the wager of law, the wager of battle, the ordeal, torture, Phila-<lb/>
delphia 1866, eine sorgfältige Arbeit, die es nicht verdient, allgemein übersehen<lb/>
zu werden. <hi rendition="#g">Federico Patetta,</hi> Le ordalie, Studio di storia del diritto e scienza<lb/>
del diritto comparato, Torino 1890, eine vortreffliche, den Gegenstand gründlich<lb/>
erörternde Monographie. <hi rendition="#g">Kaegi,</hi> Alter und Herkunft des germanischen Gottes-<lb/>
urteils 1887. <hi rendition="#g">Kohler,</hi> Studien über die Ordalien der Naturvölker, Z. f. vergl.<lb/>
RW V 368. <hi rendition="#g">Derselbe,</hi> Altindisches Proze&#x017F;srecht 1891, S. 40 f. <hi rendition="#g">Zorn,</hi> Beweis-<lb/>
verfahren nach langob. Recht S. 39. <hi rendition="#g">Schmid,</hi> Ges. der Ags. S. 639. <hi rendition="#g">Ficker,</hi><lb/>
Über gothisch-spanisches .. Recht in den Mitth. des Instituts für österr. Gf., Er-<lb/><note xml:id="seg2pn_101_2" prev="#seg2pn_101_1" place="foot" n="50">Allein der cancellarius schwört dabei auch in eigener Sache; denn er verteidigt<lb/>
sich gegen den Vorwurf, eine falsche Urkunde ausgefertigt zu haben.</note><lb/></bibl>
              </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[399/0417] § 106. Die Gottesurteile. Eine scheinbare Mittelstellung zwischen Zeugen und Eidhelfern nehmen die nachmals sogen. Schreimannen ein, Eidhelfer im Verfahren um handhafte That. Es sind Nachbarn, die das Gerüfte vernommen haben und ihm gefolgt sind. Sie schwuren aber nicht einen Zeugen-, sondern einen Helfereid, zu dem sie als ‘visores et cognitores’ zuge- lassen wurden 51, und erscheinen sonach als Helfer, von denen sich aus der Sachlage ergab, daſs ihnen der Thatbestand durch Wahrnehmung bekannt sei. Da ihr Eid sich nicht auf eigene Wahrnehmung beruft, unterscheiden sie sich grundsätzlich nicht von anderen Eidhelfern. Daſs sie visores et cognitores sind, legitimiert sie als Eidhelfer, wie andere Eidhelfer die Blutsverwandtschaft, die Nachbarschaft legitimiert, weil bei den Verwandten, bei den Nachbarn die beste Kunde der Vorgänge und Verhältnisse vorausgesetzt wird, die dem Beweisthema zu Grunde liegen. Sachlich stehen allerdings die Helfer im Verfahren um handhafte That den Zeugen am nächsten, wie sie denn auch in der folgenden Periode wahre Zeugen geworden sind und sich nachmals aus dieser Art von Eideshilfe ein materielles Beweisverfahren in Straf- sachen ausgebildet hat. § 106. Die Gottesurteile. Siehe die Litteratur zu § 23 oben I 177 f. Dreyer, Versuch einer Abhandlung von dem Nutzen der heidnischen Gottesgelahrtheit in dessen Vermischten Abh. II 828 ff. Grimm, RA S. 908 ff. 119. Noordewier S. 435. v. Amira, Recht S. 197. Konrad Maurer, Kr. Ü. V 213 ff. Phillips, Vermischte Schriften 1856, I 122. 467. Glasson, Histoire III 505. Henry Lee, Superstition and Force, Essays on the wager of law, the wager of battle, the ordeal, torture, Phila- delphia 1866, eine sorgfältige Arbeit, die es nicht verdient, allgemein übersehen zu werden. Federico Patetta, Le ordalie, Studio di storia del diritto e scienza del diritto comparato, Torino 1890, eine vortreffliche, den Gegenstand gründlich erörternde Monographie. Kaegi, Alter und Herkunft des germanischen Gottes- urteils 1887. Kohler, Studien über die Ordalien der Naturvölker, Z. f. vergl. RW V 368. Derselbe, Altindisches Prozeſsrecht 1891, S. 40 f. Zorn, Beweis- verfahren nach langob. Recht S. 39. Schmid, Ges. der Ags. S. 639. Ficker, Über gothisch-spanisches .. Recht in den Mitth. des Instituts für österr. Gf., Er- 50 51 Form. Tur. 30. Das Urteil lautet, daſs jemand, der einen anderen in Notwehr erschlagen und die That verklart hatte, ‘manu sua trigesima septima’ mit (36) ‘homines visores et cognitores’ schwören solle. In der Notitia über den Eid, Form. Turon. 31, heiſst es: similiter testes sibi similes, visores et cognitores .. post ipsum iuraverunt, ut quicquid .. ille de hac causa iuravit, verum et idoneum sacramentum dedit. 50 Allein der cancellarius schwört dabei auch in eigener Sache; denn er verteidigt sich gegen den Vorwurf, eine falsche Urkunde ausgefertigt zu haben.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/417
Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/417>, abgerufen am 23.04.2024.