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Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892.

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§ 142. Unzucht, Ehebruch und Blutschande.
hat er sein eigenes Wergeld43 oder das der Frau44 oder endlich eine
feste Ehebruchsbusse45 zu entrichten. Nach kentischem Rechte muss
er nicht nur das Wergeld der Frau bezahlen, sondern auch die Kosten
der Wiederverheiratung des geschiedenen Ehemannes tragen46.

3. Die Blutschande.

Die Blutschande (incestus) ist nicht erst seit der Christianisierung
der Germanen in den Kreis ihrer Missethaten aufgenommen worden.
Abgesehen von den selbstverständlich unzulässigen Verbindungen
zwischen Ascendenten und Descendenten galt schon den heidnischen
Germanen, bei welchen der Ansenkultus eingedrungen war, die Ge-
schwisterehe für verboten47. Wahrscheinlich wurde sie mit un-
sühnbarer Friedlosigkeit geahndet48. Schrittweise hat dann das welt-
liche Recht unter dem Einflusse der christlichen Kirche das Verbot
der Verwandtschaftsehe ausgedehnt und das Ehehindernis der Schwäger-
schaft eingeführt. Infolge dieser Ausdehnung des Incestbegriffes wurde
es notwendig, für die leichteren Fälle der Missethat die alte volks-
rechtliche Strafe abzuschwächen, oder die Ahndung wenigstens in erster
Linie auf kirchliche Massregelung zu beschränken. So erklärt es
sich, dass die Blutschande in den einzelnen Rechten uns fast die

43 Nach Lex Sal. 15. 95, Lex Rib. 35, 1, Cap. legi Sal. add. v. J. 819, c. 4,
I 292 zweihundert Solidi (das Wergeld der gebärfähigen Frau beträgt nach
fränkischem Rechte bekanntlich 600 Solidi). Das eigene Wergeld bei Raub einer
Ehefrau nach Lex Fris. Add. 3, 76. Das Wergeld des freien Mannes (60 Solidi)
bei Notzucht, sonst 24 (der Knecht 12) Solidi nach Cap. Remedii c. 8.
44 Lex Baiuw. VIII 1. Vgl. VIII 10. 12.
45 Nach alam. Rechte 80 Solidi. Kann aber der Missethäter die geraubte
Ehefrau nicht zurückgeben, weil sie inzwischen gestorben, oder will er sie mit Zu-
stimmung des Ehemanns behalten, so zahlt er ihr Wergeld. Lex Alam. 50; 56, 2.
Vgl. 46; 60, 3. Das angelsächsische Recht stuft die Busse des Ehebrechers nach
dem Stande des Ehemannes ab. Alfred 10.
46 Siehe oben I 74. Die Worte: his wergelde abicge, wollen manche so ver-
stehen, dass der Mann sein eigenes Wergeld zu zahlen habe. Siehe Schmid,
Ges. d. Ags. S. 563, Liebermann, Z. f. Geschichtswissenschaft 1890, S. 510.
Für die im Texte vertretene Ansicht spricht Aethelbirht 85, wonach der Ehebruch
mit der Frau eines Esne doppelt, d. h. mit ihrem zweifachen Werte, gebüsst wird,
und spricht die Analogie von Lex Alam. 50 und Lex Sax. 49.
47 Der Wanenkultus, dessen Göttersystem ein verehelichtes Geschwisterpaar an
der Spitze hatte, gestattete die Geschwisterehe. Ursprünglich den Ingväonen eigen-
tümlich drang er bei den Nordgermanen früher ein als der Odinsdienst, der die
Geschwisterehe verbot. Kolderup-Rosenvinge, Retshistorie I 147, Anm. a.
Wilda, Strafrecht S. 855. Weinhold, Über den Mythus vom Wanenkrieg, Ber-
liner SB 1890, S. 611 ff.
48 Vgl. v. Amira, Vollstreckungsverf. S. 28 f.

§ 142. Unzucht, Ehebruch und Blutschande.
hat er sein eigenes Wergeld43 oder das der Frau44 oder endlich eine
feste Ehebruchsbuſse45 zu entrichten. Nach kentischem Rechte muſs
er nicht nur das Wergeld der Frau bezahlen, sondern auch die Kosten
der Wiederverheiratung des geschiedenen Ehemannes tragen46.

3. Die Blutschande.

Die Blutschande (incestus) ist nicht erst seit der Christianisierung
der Germanen in den Kreis ihrer Missethaten aufgenommen worden.
Abgesehen von den selbstverständlich unzulässigen Verbindungen
zwischen Ascendenten und Descendenten galt schon den heidnischen
Germanen, bei welchen der Ansenkultus eingedrungen war, die Ge-
schwisterehe für verboten47. Wahrscheinlich wurde sie mit un-
sühnbarer Friedlosigkeit geahndet48. Schrittweise hat dann das welt-
liche Recht unter dem Einflusse der christlichen Kirche das Verbot
der Verwandtschaftsehe ausgedehnt und das Ehehindernis der Schwäger-
schaft eingeführt. Infolge dieser Ausdehnung des Incestbegriffes wurde
es notwendig, für die leichteren Fälle der Missethat die alte volks-
rechtliche Strafe abzuschwächen, oder die Ahndung wenigstens in erster
Linie auf kirchliche Maſsregelung zu beschränken. So erklärt es
sich, daſs die Blutschande in den einzelnen Rechten uns fast die

43 Nach Lex Sal. 15. 95, Lex Rib. 35, 1, Cap. legi Sal. add. v. J. 819, c. 4,
I 292 zweihundert Solidi (das Wergeld der gebärfähigen Frau beträgt nach
fränkischem Rechte bekanntlich 600 Solidi). Das eigene Wergeld bei Raub einer
Ehefrau nach Lex Fris. Add. 3, 76. Das Wergeld des freien Mannes (60 Solidi)
bei Notzucht, sonst 24 (der Knecht 12) Solidi nach Cap. Remedii c. 8.
44 Lex Baiuw. VIII 1. Vgl. VIII 10. 12.
45 Nach alam. Rechte 80 Solidi. Kann aber der Missethäter die geraubte
Ehefrau nicht zurückgeben, weil sie inzwischen gestorben, oder will er sie mit Zu-
stimmung des Ehemanns behalten, so zahlt er ihr Wergeld. Lex Alam. 50; 56, 2.
Vgl. 46; 60, 3. Das angelsächsische Recht stuft die Buſse des Ehebrechers nach
dem Stande des Ehemannes ab. Alfred 10.
46 Siehe oben I 74. Die Worte: his wergelde ábicge, wollen manche so ver-
stehen, daſs der Mann sein eigenes Wergeld zu zahlen habe. Siehe Schmid,
Ges. d. Ags. S. 563, Liebermann, Z. f. Geschichtswissenschaft 1890, S. 510.
Für die im Texte vertretene Ansicht spricht Aethelbirht 85, wonach der Ehebruch
mit der Frau eines Esne doppelt, d. h. mit ihrem zweifachen Werte, gebüſst wird,
und spricht die Analogie von Lex Alam. 50 und Lex Sax. 49.
47 Der Wanenkultus, dessen Göttersystem ein verehelichtes Geschwisterpaar an
der Spitze hatte, gestattete die Geschwisterehe. Ursprünglich den Ingväonen eigen-
tümlich drang er bei den Nordgermanen früher ein als der Odinsdienst, der die
Geschwisterehe verbot. Kolderup-Rosenvinge, Retshistorie I 147, Anm. a.
Wilda, Strafrecht S. 855. Weinhold, Über den Mythus vom Wanenkrieg, Ber-
liner SB 1890, S. 611 ff.
48 Vgl. v. Amira, Vollstreckungsverf. S. 28 f.
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[664/0682] § 142. Unzucht, Ehebruch und Blutschande. hat er sein eigenes Wergeld 43 oder das der Frau 44 oder endlich eine feste Ehebruchsbuſse 45 zu entrichten. Nach kentischem Rechte muſs er nicht nur das Wergeld der Frau bezahlen, sondern auch die Kosten der Wiederverheiratung des geschiedenen Ehemannes tragen 46. 3. Die Blutschande. Die Blutschande (incestus) ist nicht erst seit der Christianisierung der Germanen in den Kreis ihrer Missethaten aufgenommen worden. Abgesehen von den selbstverständlich unzulässigen Verbindungen zwischen Ascendenten und Descendenten galt schon den heidnischen Germanen, bei welchen der Ansenkultus eingedrungen war, die Ge- schwisterehe für verboten 47. Wahrscheinlich wurde sie mit un- sühnbarer Friedlosigkeit geahndet 48. Schrittweise hat dann das welt- liche Recht unter dem Einflusse der christlichen Kirche das Verbot der Verwandtschaftsehe ausgedehnt und das Ehehindernis der Schwäger- schaft eingeführt. Infolge dieser Ausdehnung des Incestbegriffes wurde es notwendig, für die leichteren Fälle der Missethat die alte volks- rechtliche Strafe abzuschwächen, oder die Ahndung wenigstens in erster Linie auf kirchliche Maſsregelung zu beschränken. So erklärt es sich, daſs die Blutschande in den einzelnen Rechten uns fast die 43 Nach Lex Sal. 15. 95, Lex Rib. 35, 1, Cap. legi Sal. add. v. J. 819, c. 4, I 292 zweihundert Solidi (das Wergeld der gebärfähigen Frau beträgt nach fränkischem Rechte bekanntlich 600 Solidi). Das eigene Wergeld bei Raub einer Ehefrau nach Lex Fris. Add. 3, 76. Das Wergeld des freien Mannes (60 Solidi) bei Notzucht, sonst 24 (der Knecht 12) Solidi nach Cap. Remedii c. 8. 44 Lex Baiuw. VIII 1. Vgl. VIII 10. 12. 45 Nach alam. Rechte 80 Solidi. Kann aber der Missethäter die geraubte Ehefrau nicht zurückgeben, weil sie inzwischen gestorben, oder will er sie mit Zu- stimmung des Ehemanns behalten, so zahlt er ihr Wergeld. Lex Alam. 50; 56, 2. Vgl. 46; 60, 3. Das angelsächsische Recht stuft die Buſse des Ehebrechers nach dem Stande des Ehemannes ab. Alfred 10. 46 Siehe oben I 74. Die Worte: his wergelde ábicge, wollen manche so ver- stehen, daſs der Mann sein eigenes Wergeld zu zahlen habe. Siehe Schmid, Ges. d. Ags. S. 563, Liebermann, Z. f. Geschichtswissenschaft 1890, S. 510. Für die im Texte vertretene Ansicht spricht Aethelbirht 85, wonach der Ehebruch mit der Frau eines Esne doppelt, d. h. mit ihrem zweifachen Werte, gebüſst wird, und spricht die Analogie von Lex Alam. 50 und Lex Sax. 49. 47 Der Wanenkultus, dessen Göttersystem ein verehelichtes Geschwisterpaar an der Spitze hatte, gestattete die Geschwisterehe. Ursprünglich den Ingväonen eigen- tümlich drang er bei den Nordgermanen früher ein als der Odinsdienst, der die Geschwisterehe verbot. Kolderup-Rosenvinge, Retshistorie I 147, Anm. a. Wilda, Strafrecht S. 855. Weinhold, Über den Mythus vom Wanenkrieg, Ber- liner SB 1890, S. 611 ff. 48 Vgl. v. Amira, Vollstreckungsverf. S. 28 f.

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Zitationshilfe: Brunner, Heinrich: Deutsche Rechtsgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1892, S. 664. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/brunner_rechtsgeschichte02_1892/682>, abgerufen am 24.04.2024.