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Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879.

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Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein
lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen
das Höchste, es zu beherrschen unmöglich. Es fällt mir
nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckstehern der
Geschichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans
Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser. Das muß ist
eins von den Verdammungsworten, womit der Mensch ge-
tauft worden. Der Ausspruch: es muß ja Aergerniß
kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, -- ist schauder-
haft. Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt? Ich
mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen. Könnte ich aber
dies kalte und gemarterte Herz an deine Brust legen! B.
wird dich über mein Befinden beruhigt haben, ich schrieb
ihm. Ich verwünsche meine Gesundheit. Ich glühte, das
Fieber bedeckte mich mit Küssen und umschlang mich wie der
Arm der Geliebten. Die Finsterniß wogte über mir, mein
Herz schwoll in unendlicher Sehnsucht, es drangen Sterne
durch das Dunkel, und Hände und Lippen bückten sich nieder.
Und jetzt? Und sonst? Ich habe nicht einmal die Wollust
des Schmerzes und des Sehnens. Seit ich über die Rhein-
brücke ging, bin ich wie in mir vernichtet, ein einzelnes
Gefühl taucht nicht in mir auf. Ich bin ein Automat; die
Seele ist mir genommen. Ostern ist noch mein einziger
Trost; ich habe Verwandte bei Landau, ihre Einladung und
die Erlaubniß, sie zu besuchen. Ich habe die Reise schon
tausendmal gemacht und werde nicht müde. -- Du frägst
mich: sehnst du dich nach mir? Nennst du's Sehnen, wenn
man nur in einem Punkt leben kann, und wenn man davon
gerissen ist und dann nur noch das Gefühl seines Elendes
hat? Gib mir doch Antwort. Sind meine Lippen so

Zufall, die Herrſchaft des Genies ein Puppenſpiel, ein
lächerliches Ringen gegen ein ehernes Geſetz, es zu erkennen
das Höchſte, es zu beherrſchen unmöglich. Es fällt mir
nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckſtehern der
Geſchichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans
Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmeſſer. Das muß iſt
eins von den Verdammungsworten, womit der Menſch ge-
tauft worden. Der Ausſpruch: es muß ja Aergerniß
kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, — iſt ſchauder-
haft. Was iſt das, was in uns lügt, mordet, ſtiehlt? Ich
mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen. Könnte ich aber
dies kalte und gemarterte Herz an deine Bruſt legen! B.
wird dich über mein Befinden beruhigt haben, ich ſchrieb
ihm. Ich verwünſche meine Geſundheit. Ich glühte, das
Fieber bedeckte mich mit Küſſen und umſchlang mich wie der
Arm der Geliebten. Die Finſterniß wogte über mir, mein
Herz ſchwoll in unendlicher Sehnſucht, es drangen Sterne
durch das Dunkel, und Hände und Lippen bückten ſich nieder.
Und jetzt? Und ſonſt? Ich habe nicht einmal die Wolluſt
des Schmerzes und des Sehnens. Seit ich über die Rhein-
brücke ging, bin ich wie in mir vernichtet, ein einzelnes
Gefühl taucht nicht in mir auf. Ich bin ein Automat; die
Seele iſt mir genommen. Oſtern iſt noch mein einziger
Troſt; ich habe Verwandte bei Landau, ihre Einladung und
die Erlaubniß, ſie zu beſuchen. Ich habe die Reiſe ſchon
tauſendmal gemacht und werde nicht müde. — Du frägſt
mich: ſehnſt du dich nach mir? Nennſt du's Sehnen, wenn
man nur in einem Punkt leben kann, und wenn man davon
geriſſen iſt und dann nur noch das Gefühl ſeines Elendes
hat? Gib mir doch Antwort. Sind meine Lippen ſo

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[372/0568] Zufall, die Herrſchaft des Genies ein Puppenſpiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Geſetz, es zu erkennen das Höchſte, es zu beherrſchen unmöglich. Es fällt mir nicht mehr ein, vor den Paradegäulen und Eckſtehern der Geſchichte mich zu bücken. Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmeſſer. Das muß iſt eins von den Verdammungsworten, womit der Menſch ge- tauft worden. Der Ausſpruch: es muß ja Aergerniß kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, — iſt ſchauder- haft. Was iſt das, was in uns lügt, mordet, ſtiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen. Könnte ich aber dies kalte und gemarterte Herz an deine Bruſt legen! B. wird dich über mein Befinden beruhigt haben, ich ſchrieb ihm. Ich verwünſche meine Geſundheit. Ich glühte, das Fieber bedeckte mich mit Küſſen und umſchlang mich wie der Arm der Geliebten. Die Finſterniß wogte über mir, mein Herz ſchwoll in unendlicher Sehnſucht, es drangen Sterne durch das Dunkel, und Hände und Lippen bückten ſich nieder. Und jetzt? Und ſonſt? Ich habe nicht einmal die Wolluſt des Schmerzes und des Sehnens. Seit ich über die Rhein- brücke ging, bin ich wie in mir vernichtet, ein einzelnes Gefühl taucht nicht in mir auf. Ich bin ein Automat; die Seele iſt mir genommen. Oſtern iſt noch mein einziger Troſt; ich habe Verwandte bei Landau, ihre Einladung und die Erlaubniß, ſie zu beſuchen. Ich habe die Reiſe ſchon tauſendmal gemacht und werde nicht müde. — Du frägſt mich: ſehnſt du dich nach mir? Nennſt du's Sehnen, wenn man nur in einem Punkt leben kann, und wenn man davon geriſſen iſt und dann nur noch das Gefühl ſeines Elendes hat? Gib mir doch Antwort. Sind meine Lippen ſo

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Zitationshilfe: Büchner, Georg: Sämmtliche Werke und handschriftlicher Nachlaß. Frankfurt (Main), 1879, S. 372. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/buechner_werke_1879/568>, abgerufen am 29.03.2024.