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Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860.

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2. Abschnitt.dung mit einer noch immer großen municipalen Freiheit
und mit dem Dasein einer Kirche, die nicht, wie in Byzanz
und in der islamitischen Welt, mit dem Staat identisch
war -- alle diese Elemente zusammen begünstigten ohne
Zweifel das Aufkommen individueller Denkweisen, und
gerade die Abwesenheit des Parteikampfes fügte hier die
nöthige Muße hinzu. Der politisch indifferente Privatmensch
mit seinen theils ernsten theils dilettantischen Beschäftigungen
möchte wohl in diesen Gewaltstaaten des XIV. Jahrhunderts
zuerst vollkommen ausgebildet aufgetreten sein. Urkund-
liche Aussagen hierüber sind freilich nicht zu verlangen; die
Novellisten, von welchen man Winke erwarten könnte, schildern
zwar manchen bizarren Menschen, aber immer nur in ein-
seitiger Absicht und nur so weit dergleichen die zu erzäh-
lende Geschichte berührt; auch spielt ihre Scene vorwiegend
in republicanischen Städten.

Die
Republiken.
In diesen letztern waren die Dinge wieder auf andere
Weise der Ausbildung des individuellen Characters günstig.
Je häufiger die Parteien in der Herrschaft abwechselten,
um so viel stärker war der Einzelne veranlaßt, sich zusam-
menzunehmen bei Ausübung und Genuß der Herrschaft.
So gewinnen zumal in der florentinischen Geschichte 1) die
Staatsmänner und Volksführer ein so kenntliches persön-
liches Dasein wie sonst in der damaligen Welt kaum aus-
nahmsweise Einer, kaum ein Jacob von Arteveldt.

Die Leute der unterlegenen Parteien aber kamen oft
in eine ähnliche Stellung wie die Unterthanen der Tyran-
nenstaaten, nur daß die bereits gekostete Freiheit oder Herr-

1) Franco Sacchetti, in seinem Capitolo (Rime, publ. dal Poggiali,
p. 56)
zählt um 1390 über hundert Namen von bedeutenden Leuten
der herrschenden Parteien auf, welche bei seinen Gedenkzeiten gestorben
seien. So viele Mediocritäten darunter sein mochten, so ist doch das
Ganze ein starker Beleg für das Erwachen der Individualität. --
Ueber die "Vite" des Filippo Villani s. unten.

2. Abſchnitt.dung mit einer noch immer großen municipalen Freiheit
und mit dem Daſein einer Kirche, die nicht, wie in Byzanz
und in der islamitiſchen Welt, mit dem Staat identiſch
war — alle dieſe Elemente zuſammen begünſtigten ohne
Zweifel das Aufkommen individueller Denkweiſen, und
gerade die Abweſenheit des Parteikampfes fügte hier die
nöthige Muße hinzu. Der politiſch indifferente Privatmenſch
mit ſeinen theils ernſten theils dilettantiſchen Beſchäftigungen
möchte wohl in dieſen Gewaltſtaaten des XIV. Jahrhunderts
zuerſt vollkommen ausgebildet aufgetreten ſein. Urkund-
liche Ausſagen hierüber ſind freilich nicht zu verlangen; die
Novelliſten, von welchen man Winke erwarten könnte, ſchildern
zwar manchen bizarren Menſchen, aber immer nur in ein-
ſeitiger Abſicht und nur ſo weit dergleichen die zu erzäh-
lende Geſchichte berührt; auch ſpielt ihre Scene vorwiegend
in republicaniſchen Städten.

Die
Republiken.
In dieſen letztern waren die Dinge wieder auf andere
Weiſe der Ausbildung des individuellen Characters günſtig.
Je häufiger die Parteien in der Herrſchaft abwechſelten,
um ſo viel ſtärker war der Einzelne veranlaßt, ſich zuſam-
menzunehmen bei Ausübung und Genuß der Herrſchaft.
So gewinnen zumal in der florentiniſchen Geſchichte 1) die
Staatsmänner und Volksführer ein ſo kenntliches perſön-
liches Daſein wie ſonſt in der damaligen Welt kaum aus-
nahmsweiſe Einer, kaum ein Jacob von Arteveldt.

Die Leute der unterlegenen Parteien aber kamen oft
in eine ähnliche Stellung wie die Unterthanen der Tyran-
nenſtaaten, nur daß die bereits gekoſtete Freiheit oder Herr-

1) Franco Sacchetti, in ſeinem Capitolo (Rime, publ. dal Poggiali,
p. 56)
zählt um 1390 über hundert Namen von bedeutenden Leuten
der herrſchenden Parteien auf, welche bei ſeinen Gedenkzeiten geſtorben
ſeien. So viele Mediocritäten darunter ſein mochten, ſo iſt doch das
Ganze ein ſtarker Beleg für das Erwachen der Individualität. —
Ueber die „Vite“ des Filippo Villani ſ. unten.
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[134/0144] dung mit einer noch immer großen municipalen Freiheit und mit dem Daſein einer Kirche, die nicht, wie in Byzanz und in der islamitiſchen Welt, mit dem Staat identiſch war — alle dieſe Elemente zuſammen begünſtigten ohne Zweifel das Aufkommen individueller Denkweiſen, und gerade die Abweſenheit des Parteikampfes fügte hier die nöthige Muße hinzu. Der politiſch indifferente Privatmenſch mit ſeinen theils ernſten theils dilettantiſchen Beſchäftigungen möchte wohl in dieſen Gewaltſtaaten des XIV. Jahrhunderts zuerſt vollkommen ausgebildet aufgetreten ſein. Urkund- liche Ausſagen hierüber ſind freilich nicht zu verlangen; die Novelliſten, von welchen man Winke erwarten könnte, ſchildern zwar manchen bizarren Menſchen, aber immer nur in ein- ſeitiger Abſicht und nur ſo weit dergleichen die zu erzäh- lende Geſchichte berührt; auch ſpielt ihre Scene vorwiegend in republicaniſchen Städten. 2. Abſchnitt. In dieſen letztern waren die Dinge wieder auf andere Weiſe der Ausbildung des individuellen Characters günſtig. Je häufiger die Parteien in der Herrſchaft abwechſelten, um ſo viel ſtärker war der Einzelne veranlaßt, ſich zuſam- menzunehmen bei Ausübung und Genuß der Herrſchaft. So gewinnen zumal in der florentiniſchen Geſchichte 1) die Staatsmänner und Volksführer ein ſo kenntliches perſön- liches Daſein wie ſonſt in der damaligen Welt kaum aus- nahmsweiſe Einer, kaum ein Jacob von Arteveldt. Die Republiken. Die Leute der unterlegenen Parteien aber kamen oft in eine ähnliche Stellung wie die Unterthanen der Tyran- nenſtaaten, nur daß die bereits gekoſtete Freiheit oder Herr- 1) Franco Sacchetti, in ſeinem Capitolo (Rime, publ. dal Poggiali, p. 56) zählt um 1390 über hundert Namen von bedeutenden Leuten der herrſchenden Parteien auf, welche bei ſeinen Gedenkzeiten geſtorben ſeien. So viele Mediocritäten darunter ſein mochten, ſo iſt doch das Ganze ein ſtarker Beleg für das Erwachen der Individualität. — Ueber die „Vite“ des Filippo Villani ſ. unten.

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Zitationshilfe: Burckhardt, Jacob: Die Cultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Basel, 1860, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/burckhardt_renaissance_1860/144>, abgerufen am 29.03.2024.