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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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die Beiziehung des Innern auf Aeußeres, und Erkennen,
das Beziehen des Aeußern auf Inneres, sich gegenseitig
entsprechen und bedingen. Nichts desto weniger ist die Ener¬
gie beider nicht immer sich gleich. Es findet sich zuweilen
ein sehr kräftiges, starke Reaction hervorrufendes Wollen
bei mäßiger Energie der Erkenntniß und umgekehrt, und
im Allgemeinen darf man sagen, daß, im Verhältniß gegen
die Menschheit, das erstere in der Thierheit der Fall sei.
Das was wir, als höchste Entwicklung des Willens, die
Willensfreiheit nennen, ist eigentlich das Freisein von an¬
dern Bestimmungen zum Handeln, als denen, welche die
zum Vernehmen einer Idee entwickelte Erkenntniß als die
angemessensten darstellt. Jeder Wille der entweder von
einer neu aufgenommenen Vorstellung, oder von einer, nach
dem später zu besprechenden Kreislaufe der Vorstellungen,
innerlich neu angeregten Vorstellung unmittelbar bestimmt
wird, ohne vorher an dem Maße einer Idee gemessen zu
sein, ist unfrei zu nennen, und indem das Thier der Er¬
kenntniß der Idee entbehrt, muß also nothwendig sein Wille
durch sein unfrei-Sein vom Willen des gereiften Menschen
sich gänzlich unterscheiden. Das Höchste, wozu es demnach
in dieser Beziehung das Thier bringen kann, und wo dann
abermals eine gewisse Steigerung zwischen den verschiede¬
nen Gattungen sehr bestimmt hervortritt, ist "Willkür."
Unter Willkür verstehen wir nämlich die Eigenschaft der
Seele, vermöge deren in gegebenem Falle die innere An¬
regung zu irgend einem Thun nicht unmittelbar durch den
äußern Reiz oder das innere organische Bedürfniß bestimmt
wird, sondern wo die Entscheidung zur Thätigkeit, wenn
auch nicht an einer erfaßten Idee, aber doch an dem eig¬
nen Selbstgefühle, und einem gewissen Erkennen davon,
ob das eine oder das andere Thun diesem Selbstgefühle
größere Lust gewähren könne, abgemessen und gegeben wird.
So verschmäht unter gewissen Umständen das Thier die
eine Nahrung und wählt eine andre, so wählt der Vogel

die Beiziehung des Innern auf Aeußeres, und Erkennen,
das Beziehen des Aeußern auf Inneres, ſich gegenſeitig
entſprechen und bedingen. Nichts deſto weniger iſt die Ener¬
gie beider nicht immer ſich gleich. Es findet ſich zuweilen
ein ſehr kräftiges, ſtarke Reaction hervorrufendes Wollen
bei mäßiger Energie der Erkenntniß und umgekehrt, und
im Allgemeinen darf man ſagen, daß, im Verhältniß gegen
die Menſchheit, das erſtere in der Thierheit der Fall ſei.
Das was wir, als höchſte Entwicklung des Willens, die
Willensfreiheit nennen, iſt eigentlich das Freiſein von an¬
dern Beſtimmungen zum Handeln, als denen, welche die
zum Vernehmen einer Idee entwickelte Erkenntniß als die
angemeſſenſten darſtellt. Jeder Wille der entweder von
einer neu aufgenommenen Vorſtellung, oder von einer, nach
dem ſpäter zu beſprechenden Kreislaufe der Vorſtellungen,
innerlich neu angeregten Vorſtellung unmittelbar beſtimmt
wird, ohne vorher an dem Maße einer Idee gemeſſen zu
ſein, iſt unfrei zu nennen, und indem das Thier der Er¬
kenntniß der Idee entbehrt, muß alſo nothwendig ſein Wille
durch ſein unfrei-Sein vom Willen des gereiften Menſchen
ſich gänzlich unterſcheiden. Das Höchſte, wozu es demnach
in dieſer Beziehung das Thier bringen kann, und wo dann
abermals eine gewiſſe Steigerung zwiſchen den verſchiede¬
nen Gattungen ſehr beſtimmt hervortritt, iſt „Willkür.“
Unter Willkür verſtehen wir nämlich die Eigenſchaft der
Seele, vermöge deren in gegebenem Falle die innere An¬
regung zu irgend einem Thun nicht unmittelbar durch den
äußern Reiz oder das innere organiſche Bedürfniß beſtimmt
wird, ſondern wo die Entſcheidung zur Thätigkeit, wenn
auch nicht an einer erfaßten Idee, aber doch an dem eig¬
nen Selbſtgefühle, und einem gewiſſen Erkennen davon,
ob das eine oder das andere Thun dieſem Selbſtgefühle
größere Luſt gewähren könne, abgemeſſen und gegeben wird.
So verſchmäht unter gewiſſen Umſtänden das Thier die
eine Nahrung und wählt eine andre, ſo wählt der Vogel

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[148/0164] die Beiziehung des Innern auf Aeußeres, und Erkennen, das Beziehen des Aeußern auf Inneres, ſich gegenſeitig entſprechen und bedingen. Nichts deſto weniger iſt die Ener¬ gie beider nicht immer ſich gleich. Es findet ſich zuweilen ein ſehr kräftiges, ſtarke Reaction hervorrufendes Wollen bei mäßiger Energie der Erkenntniß und umgekehrt, und im Allgemeinen darf man ſagen, daß, im Verhältniß gegen die Menſchheit, das erſtere in der Thierheit der Fall ſei. Das was wir, als höchſte Entwicklung des Willens, die Willensfreiheit nennen, iſt eigentlich das Freiſein von an¬ dern Beſtimmungen zum Handeln, als denen, welche die zum Vernehmen einer Idee entwickelte Erkenntniß als die angemeſſenſten darſtellt. Jeder Wille der entweder von einer neu aufgenommenen Vorſtellung, oder von einer, nach dem ſpäter zu beſprechenden Kreislaufe der Vorſtellungen, innerlich neu angeregten Vorſtellung unmittelbar beſtimmt wird, ohne vorher an dem Maße einer Idee gemeſſen zu ſein, iſt unfrei zu nennen, und indem das Thier der Er¬ kenntniß der Idee entbehrt, muß alſo nothwendig ſein Wille durch ſein unfrei-Sein vom Willen des gereiften Menſchen ſich gänzlich unterſcheiden. Das Höchſte, wozu es demnach in dieſer Beziehung das Thier bringen kann, und wo dann abermals eine gewiſſe Steigerung zwiſchen den verſchiede¬ nen Gattungen ſehr beſtimmt hervortritt, iſt „Willkür.“ Unter Willkür verſtehen wir nämlich die Eigenſchaft der Seele, vermöge deren in gegebenem Falle die innere An¬ regung zu irgend einem Thun nicht unmittelbar durch den äußern Reiz oder das innere organiſche Bedürfniß beſtimmt wird, ſondern wo die Entſcheidung zur Thätigkeit, wenn auch nicht an einer erfaßten Idee, aber doch an dem eig¬ nen Selbſtgefühle, und einem gewiſſen Erkennen davon, ob das eine oder das andere Thun dieſem Selbſtgefühle größere Luſt gewähren könne, abgemeſſen und gegeben wird. So verſchmäht unter gewiſſen Umſtänden das Thier die eine Nahrung und wählt eine andre, ſo wählt der Vogel

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/164>, abgerufen am 28.03.2024.