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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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8. Zur Geschichte des Willens.

Ein Wollen, eine Willkür, und zuhöchst ein freier
Wille, werden in der menschlichen Seele nur dadurch denk¬
bar, daß schon durch das unbewußte Walten der Bildung,
leibliche Organe sich ihr entwickeln, welche ein bestimmtes
Thun, eine Wirkung nach außen möglich machen. Nur
einer Seele, welcher die Möglichkeit eines bestimm¬
ten Thuns
gegeben ist, kann ein bestimmter Wille zu¬
kommen; es wächst die Willensstärke deßhalb zunächst mit
der Entwicklung und Kräftigung dieser Gebilde, und sie
nimmt ab mit der Schwäche oder der Verkümmerung der¬
selben. -- Die Physiologie weist nach, daß als solche
Träger des Activen im Organismus angesehen werden
müssen, zunächst die den centrifugalen Strom der Inner¬
vation leitenden Primitivfasern der Nerven, und secundär
die durch diese Strömungen angeregten Bewegungs- und
Sinnesorgane. So lange diese Gebilde daher -- wie wir
dies in niedersten Organismen, und jedem ersten embryo¬
nischen Zustand der höhern finden, -- noch in einer nicht
vollkommen getrennten indifferenten Zellsubstanz ruhen, so
lange ist von Willkür und noch weniger von freiem Wil¬
len die Rede, sondern nur mit Nothwendigkeit erfolgt
auf einen angebrachten Reiz die augenblickliche Reaction,
etwa eine Zusammenziehung oder dergleichen. Erst wo die
Scheidung aller Substanzen vollendet und in der das Be¬
wußtsein bedingenden Entwicklung nervoser Elementarsub¬
stanz des Hirns die eigentliche Selbstständigkeit des Orga¬
nismus begründet ist, tritt zwischen Reiz und Gegenwirkung,
wie früher schon gezeigt wurde, das Erkennen her¬
vor, und von diesem Augenblick an muß nicht mehr die
Gegenwirkung unbedingt auf den Reiz folgen, und von
nun an kann auch, bloß durch die Erkenntniß oder das
Gefühl angeregt, ein Wollen sich hervorthun, mit einem
Wort -- erst von hier an ist von einer Willkür und zu¬
höchst von einem freien Willen die Rede.

8. Zur Geſchichte des Willens.

Ein Wollen, eine Willkür, und zuhöchſt ein freier
Wille, werden in der menſchlichen Seele nur dadurch denk¬
bar, daß ſchon durch das unbewußte Walten der Bildung,
leibliche Organe ſich ihr entwickeln, welche ein beſtimmtes
Thun, eine Wirkung nach außen möglich machen. Nur
einer Seele, welcher die Möglichkeit eines beſtimm¬
ten Thuns
gegeben iſt, kann ein beſtimmter Wille zu¬
kommen; es wächſt die Willensſtärke deßhalb zunächſt mit
der Entwicklung und Kräftigung dieſer Gebilde, und ſie
nimmt ab mit der Schwäche oder der Verkümmerung der¬
ſelben. — Die Phyſiologie weist nach, daß als ſolche
Träger des Activen im Organismus angeſehen werden
müſſen, zunächſt die den centrifugalen Strom der Inner¬
vation leitenden Primitivfaſern der Nerven, und ſecundär
die durch dieſe Strömungen angeregten Bewegungs- und
Sinnesorgane. So lange dieſe Gebilde daher — wie wir
dies in niederſten Organismen, und jedem erſten embryo¬
niſchen Zuſtand der höhern finden, — noch in einer nicht
vollkommen getrennten indifferenten Zellſubſtanz ruhen, ſo
lange iſt von Willkür und noch weniger von freiem Wil¬
len die Rede, ſondern nur mit Nothwendigkeit erfolgt
auf einen angebrachten Reiz die augenblickliche Reaction,
etwa eine Zuſammenziehung oder dergleichen. Erſt wo die
Scheidung aller Subſtanzen vollendet und in der das Be¬
wußtſein bedingenden Entwicklung nervoſer Elementarſub¬
ſtanz des Hirns die eigentliche Selbſtſtändigkeit des Orga¬
nismus begründet iſt, tritt zwiſchen Reiz und Gegenwirkung,
wie früher ſchon gezeigt wurde, das Erkennen her¬
vor, und von dieſem Augenblick an muß nicht mehr die
Gegenwirkung unbedingt auf den Reiz folgen, und von
nun an kann auch, bloß durch die Erkenntniß oder das
Gefühl angeregt, ein Wollen ſich hervorthun, mit einem
Wort — erſt von hier an iſt von einer Willkür und zu¬
höchſt von einem freien Willen die Rede.

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[355/0371] 8. Zur Geſchichte des Willens. Ein Wollen, eine Willkür, und zuhöchſt ein freier Wille, werden in der menſchlichen Seele nur dadurch denk¬ bar, daß ſchon durch das unbewußte Walten der Bildung, leibliche Organe ſich ihr entwickeln, welche ein beſtimmtes Thun, eine Wirkung nach außen möglich machen. Nur einer Seele, welcher die Möglichkeit eines beſtimm¬ ten Thuns gegeben iſt, kann ein beſtimmter Wille zu¬ kommen; es wächſt die Willensſtärke deßhalb zunächſt mit der Entwicklung und Kräftigung dieſer Gebilde, und ſie nimmt ab mit der Schwäche oder der Verkümmerung der¬ ſelben. — Die Phyſiologie weist nach, daß als ſolche Träger des Activen im Organismus angeſehen werden müſſen, zunächſt die den centrifugalen Strom der Inner¬ vation leitenden Primitivfaſern der Nerven, und ſecundär die durch dieſe Strömungen angeregten Bewegungs- und Sinnesorgane. So lange dieſe Gebilde daher — wie wir dies in niederſten Organismen, und jedem erſten embryo¬ niſchen Zuſtand der höhern finden, — noch in einer nicht vollkommen getrennten indifferenten Zellſubſtanz ruhen, ſo lange iſt von Willkür und noch weniger von freiem Wil¬ len die Rede, ſondern nur mit Nothwendigkeit erfolgt auf einen angebrachten Reiz die augenblickliche Reaction, etwa eine Zuſammenziehung oder dergleichen. Erſt wo die Scheidung aller Subſtanzen vollendet und in der das Be¬ wußtſein bedingenden Entwicklung nervoſer Elementarſub¬ ſtanz des Hirns die eigentliche Selbſtſtändigkeit des Orga¬ nismus begründet iſt, tritt zwiſchen Reiz und Gegenwirkung, wie früher ſchon gezeigt wurde, das Erkennen her¬ vor, und von dieſem Augenblick an muß nicht mehr die Gegenwirkung unbedingt auf den Reiz folgen, und von nun an kann auch, bloß durch die Erkenntniß oder das Gefühl angeregt, ein Wollen ſich hervorthun, mit einem Wort — erſt von hier an iſt von einer Willkür und zu¬ höchſt von einem freien Willen die Rede.

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/371>, abgerufen am 16.04.2024.