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Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846.

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ein in sich mannichfaltiger Organismus wirklich wird,
und zwar wird, durch unermeßlichmaliges sich selbst Setzen
in Gestalt einer Urform, einer Monade, einer Urzelle.
Wie nun aber aus einem Organismus ein oder mehrere
neue selbstständige Organismen hervorgehen und immer
neue Ideen so sich darleben können, damit die Gattung
erhalten werde, ist ferner eine Frage, die ebenfalls der
Psychologie von höchster Wichtigkeit ist, in wie fern dabei
und dadurch entschieden werden muß auf welche Weise die
Vervielfältigung der Seelen gedacht werden darf. Wir
finden Geschöpfe, in denen fast jede Monade, jede Urzelle
ihres Innern, im Stande ist, zu einem neuen selbstständi¬
gen Organismus zu werden, wir finden andere, welche
durch einen Schnitt sich theilen lassen, jede Hälfte vervoll¬
ständigt sich, und wo früher eine Seele waltete, äußern
sich jetzt zwei Seelen. Diese Vorgänge erscheinen beim
ersten Anblick höchst geheimnißvoll. Kann eine Idee
sich theilen
? Kann eine gewaltsam mechanische
Trennung
verursachen, daß eine Seele zu zweien,
ja zu vielen wird? Diese Fragen müssen erledigt sein,
um nicht nur die unendliche Vervielfältigung der Seelen
des Thierreichs, sondern auch das sich Offenbaren von
mehr und immer mehr menschlichen zum Bewußtsein be¬
stimmten Seelen zu begreifen.

Anfangen muß man hier damit, es sich ganz deutlich
zu machen, in welchem Verhältniß die Gattung zum Indivi¬
duum überhaupt steht. Die Gattung (species) ist nämlich
an und für sich ein rein Ideelles, als Wirkliches, räumlich
vollständig Erscheinendes, gar nicht existirend, sondern
in der Vielheit der Individuen allein immerfort sich offen¬
barend. Dies Verhältniß der Gattung wiederholt sich dann
gewissermaßen in dem des Individuums zu seinen elemen¬
taren Theilen den Urzellen. In der Entstehung, Fortbil¬
dung, Zerstörung und Wiederbildung dieser Urzellen lebt
sich nämlich das Erstere fortwährend eben so dar, wie die

ein in ſich mannichfaltiger Organismus wirklich wird,
und zwar wird, durch unermeßlichmaliges ſich ſelbſt Setzen
in Geſtalt einer Urform, einer Monade, einer Urzelle.
Wie nun aber aus einem Organismus ein oder mehrere
neue ſelbſtſtändige Organismen hervorgehen und immer
neue Ideen ſo ſich darleben können, damit die Gattung
erhalten werde, iſt ferner eine Frage, die ebenfalls der
Pſychologie von höchſter Wichtigkeit iſt, in wie fern dabei
und dadurch entſchieden werden muß auf welche Weiſe die
Vervielfältigung der Seelen gedacht werden darf. Wir
finden Geſchöpfe, in denen faſt jede Monade, jede Urzelle
ihres Innern, im Stande iſt, zu einem neuen ſelbſtſtändi¬
gen Organismus zu werden, wir finden andere, welche
durch einen Schnitt ſich theilen laſſen, jede Hälfte vervoll¬
ſtändigt ſich, und wo früher eine Seele waltete, äußern
ſich jetzt zwei Seelen. Dieſe Vorgänge erſcheinen beim
erſten Anblick höchſt geheimnißvoll. Kann eine Idee
ſich theilen
? Kann eine gewaltſam mechaniſche
Trennung
verurſachen, daß eine Seele zu zweien,
ja zu vielen wird? Dieſe Fragen müſſen erledigt ſein,
um nicht nur die unendliche Vervielfältigung der Seelen
des Thierreichs, ſondern auch das ſich Offenbaren von
mehr und immer mehr menſchlichen zum Bewußtſein be¬
ſtimmten Seelen zu begreifen.

Anfangen muß man hier damit, es ſich ganz deutlich
zu machen, in welchem Verhältniß die Gattung zum Indivi¬
duum überhaupt ſteht. Die Gattung (species) iſt nämlich
an und für ſich ein rein Ideelles, als Wirkliches, räumlich
vollſtändig Erſcheinendes, gar nicht exiſtirend, ſondern
in der Vielheit der Individuen allein immerfort ſich offen¬
barend. Dies Verhältniß der Gattung wiederholt ſich dann
gewiſſermaßen in dem des Individuums zu ſeinen elemen¬
taren Theilen den Urzellen. In der Entſtehung, Fortbil¬
dung, Zerſtörung und Wiederbildung dieſer Urzellen lebt
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[53/0069] ein in ſich mannichfaltiger Organismus wirklich wird, und zwar wird, durch unermeßlichmaliges ſich ſelbſt Setzen in Geſtalt einer Urform, einer Monade, einer Urzelle. Wie nun aber aus einem Organismus ein oder mehrere neue ſelbſtſtändige Organismen hervorgehen und immer neue Ideen ſo ſich darleben können, damit die Gattung erhalten werde, iſt ferner eine Frage, die ebenfalls der Pſychologie von höchſter Wichtigkeit iſt, in wie fern dabei und dadurch entſchieden werden muß auf welche Weiſe die Vervielfältigung der Seelen gedacht werden darf. Wir finden Geſchöpfe, in denen faſt jede Monade, jede Urzelle ihres Innern, im Stande iſt, zu einem neuen ſelbſtſtändi¬ gen Organismus zu werden, wir finden andere, welche durch einen Schnitt ſich theilen laſſen, jede Hälfte vervoll¬ ſtändigt ſich, und wo früher eine Seele waltete, äußern ſich jetzt zwei Seelen. Dieſe Vorgänge erſcheinen beim erſten Anblick höchſt geheimnißvoll. Kann eine Idee ſich theilen? Kann eine gewaltſam mechaniſche Trennung verurſachen, daß eine Seele zu zweien, ja zu vielen wird? Dieſe Fragen müſſen erledigt ſein, um nicht nur die unendliche Vervielfältigung der Seelen des Thierreichs, ſondern auch das ſich Offenbaren von mehr und immer mehr menſchlichen zum Bewußtſein be¬ ſtimmten Seelen zu begreifen. Anfangen muß man hier damit, es ſich ganz deutlich zu machen, in welchem Verhältniß die Gattung zum Indivi¬ duum überhaupt ſteht. Die Gattung (species) iſt nämlich an und für ſich ein rein Ideelles, als Wirkliches, räumlich vollſtändig Erſcheinendes, gar nicht exiſtirend, ſondern in der Vielheit der Individuen allein immerfort ſich offen¬ barend. Dies Verhältniß der Gattung wiederholt ſich dann gewiſſermaßen in dem des Individuums zu ſeinen elemen¬ taren Theilen den Urzellen. In der Entſtehung, Fortbil¬ dung, Zerſtörung und Wiederbildung dieſer Urzellen lebt ſich nämlich das Erſtere fortwährend eben ſo dar, wie die

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Zitationshilfe: Carus, Carl Gustav: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Pforzheim, 1846, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/carus_psyche_1846/69>, abgerufen am 28.03.2024.