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Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899.

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Die Entstehung einer neuen Welt.
baues von der Naturwirtschaft zur Kunstwirtschaft. Gerade die un-
geheure Schnelligkeit, mit welcher das Fabrikwesen sich ausgedehnt
hat, dazu die gleichzeitig fast ins Unbeschränkte erweiterte Möglichkeit
der Auswanderung, hat die unumgängliche Grausamkeit dieser Ent-
wickelung einigermassen gemildert.

Wir haben gesehen, wie genau dieser wirtschaftliche Umschwung
durch den individuellen Charakter des Germanen vorausbedingt war.
Sobald die leidige Politik nur einen Augenblick ruhig Atem schöpfen
liess, sahen wir im 13. Jahrhundert Roger Bacon, im 15. Leonardo da
Vinci das Werk der Erfindung anticipieren, dessen Verwirklichung Jahr-
hunderte hindurch nur äusserlich verhindert werden sollte. Und eben-
sowenig wie Teleskop und Lokomotive ein schlechterdings Neues,
etwa die Frucht einer geistigen Entwickelung sind, ebensowenig ist
irgend etwas in unserem heutigen wirtschaftlichen Zustand prinzipiell
neu, und sei es noch so verschieden als Erscheinung von früheren
Zuständen. Wir werden die wirtschaftliche Lage der Gegenwart erst
dann richtig beurteilen, wenn wir gelernt haben werden, die Grundzüge
unseres Charakters in den vergangenen Jahrhunderten überall am Werke
zu erkennen: derselbe Charakter ist auch heute am Werke.



5. Politik und Kirche (von der Einführung des Beichtzwanges, 1215,
bis zur französischen Revolution).
Die Kirche.

Inwiefern ich bei diesem Überblick Politik und Kirche als zu-
sammengehörig betrachte, habe ich S. 735 auseinandergesetzt; die
tieferen Gründe dieser Zusammengehörigkeit sind in der Einleitung
zum Abschnitt "Der Kampf" berührt.1) Ausserdem wird wohl Nie-
mand leugnen, dass in der Entwickelung Europa's seit dem 13. Jahr-
hundert die thatsächlich bestehenden Beziehungen zwischen Kirche und
Politik in manchen wichtigsten Dingen von ausschlaggebender Bedeu-
tung waren, und praktische Politiker behaupten einstimmig, eine voll-
kommene Trennung der Kirche vom politischen Staate -- d. h. also
die Indifferenz des Staates in Bezug auf kirchliche Dinge -- sei auch
heute noch undurchführbar. Prüft man die diesbezüglichen Argumente
der konservativsten Staatsmänner, man wird sie stichhaltiger finden als
die ihrer doktrinären Gegner. Man schlage z. B. das Buch Streitfragen

1) Siehe auch Allgemeine Einleitung, S. 19.

Die Entstehung einer neuen Welt.
baues von der Naturwirtschaft zur Kunstwirtschaft. Gerade die un-
geheure Schnelligkeit, mit welcher das Fabrikwesen sich ausgedehnt
hat, dazu die gleichzeitig fast ins Unbeschränkte erweiterte Möglichkeit
der Auswanderung, hat die unumgängliche Grausamkeit dieser Ent-
wickelung einigermassen gemildert.

Wir haben gesehen, wie genau dieser wirtschaftliche Umschwung
durch den individuellen Charakter des Germanen vorausbedingt war.
Sobald die leidige Politik nur einen Augenblick ruhig Atem schöpfen
liess, sahen wir im 13. Jahrhundert Roger Bacon, im 15. Leonardo da
Vinci das Werk der Erfindung anticipieren, dessen Verwirklichung Jahr-
hunderte hindurch nur äusserlich verhindert werden sollte. Und eben-
sowenig wie Teleskop und Lokomotive ein schlechterdings Neues,
etwa die Frucht einer geistigen Entwickelung sind, ebensowenig ist
irgend etwas in unserem heutigen wirtschaftlichen Zustand prinzipiell
neu, und sei es noch so verschieden als Erscheinung von früheren
Zuständen. Wir werden die wirtschaftliche Lage der Gegenwart erst
dann richtig beurteilen, wenn wir gelernt haben werden, die Grundzüge
unseres Charakters in den vergangenen Jahrhunderten überall am Werke
zu erkennen: derselbe Charakter ist auch heute am Werke.



5. Politik und Kirche (von der Einführung des Beichtzwanges, 1215,
bis zur französischen Revolution).
Die Kirche.

Inwiefern ich bei diesem Überblick Politik und Kirche als zu-
sammengehörig betrachte, habe ich S. 735 auseinandergesetzt; die
tieferen Gründe dieser Zusammengehörigkeit sind in der Einleitung
zum Abschnitt »Der Kampf« berührt.1) Ausserdem wird wohl Nie-
mand leugnen, dass in der Entwickelung Europa’s seit dem 13. Jahr-
hundert die thatsächlich bestehenden Beziehungen zwischen Kirche und
Politik in manchen wichtigsten Dingen von ausschlaggebender Bedeu-
tung waren, und praktische Politiker behaupten einstimmig, eine voll-
kommene Trennung der Kirche vom politischen Staate — d. h. also
die Indifferenz des Staates in Bezug auf kirchliche Dinge — sei auch
heute noch undurchführbar. Prüft man die diesbezüglichen Argumente
der konservativsten Staatsmänner, man wird sie stichhaltiger finden als
die ihrer doktrinären Gegner. Man schlage z. B. das Buch Streitfragen

1) Siehe auch Allgemeine Einleitung, S. 19.
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[838/0317] Die Entstehung einer neuen Welt. baues von der Naturwirtschaft zur Kunstwirtschaft. Gerade die un- geheure Schnelligkeit, mit welcher das Fabrikwesen sich ausgedehnt hat, dazu die gleichzeitig fast ins Unbeschränkte erweiterte Möglichkeit der Auswanderung, hat die unumgängliche Grausamkeit dieser Ent- wickelung einigermassen gemildert. Wir haben gesehen, wie genau dieser wirtschaftliche Umschwung durch den individuellen Charakter des Germanen vorausbedingt war. Sobald die leidige Politik nur einen Augenblick ruhig Atem schöpfen liess, sahen wir im 13. Jahrhundert Roger Bacon, im 15. Leonardo da Vinci das Werk der Erfindung anticipieren, dessen Verwirklichung Jahr- hunderte hindurch nur äusserlich verhindert werden sollte. Und eben- sowenig wie Teleskop und Lokomotive ein schlechterdings Neues, etwa die Frucht einer geistigen Entwickelung sind, ebensowenig ist irgend etwas in unserem heutigen wirtschaftlichen Zustand prinzipiell neu, und sei es noch so verschieden als Erscheinung von früheren Zuständen. Wir werden die wirtschaftliche Lage der Gegenwart erst dann richtig beurteilen, wenn wir gelernt haben werden, die Grundzüge unseres Charakters in den vergangenen Jahrhunderten überall am Werke zu erkennen: derselbe Charakter ist auch heute am Werke. 5. Politik und Kirche (von der Einführung des Beichtzwanges, 1215, bis zur französischen Revolution). Inwiefern ich bei diesem Überblick Politik und Kirche als zu- sammengehörig betrachte, habe ich S. 735 auseinandergesetzt; die tieferen Gründe dieser Zusammengehörigkeit sind in der Einleitung zum Abschnitt »Der Kampf« berührt. 1) Ausserdem wird wohl Nie- mand leugnen, dass in der Entwickelung Europa’s seit dem 13. Jahr- hundert die thatsächlich bestehenden Beziehungen zwischen Kirche und Politik in manchen wichtigsten Dingen von ausschlaggebender Bedeu- tung waren, und praktische Politiker behaupten einstimmig, eine voll- kommene Trennung der Kirche vom politischen Staate — d. h. also die Indifferenz des Staates in Bezug auf kirchliche Dinge — sei auch heute noch undurchführbar. Prüft man die diesbezüglichen Argumente der konservativsten Staatsmänner, man wird sie stichhaltiger finden als die ihrer doktrinären Gegner. Man schlage z. B. das Buch Streitfragen 1) Siehe auch Allgemeine Einleitung, S. 19.

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Zitationshilfe: Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts. Bd. 2. München 1899, S. 838. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/chamberlain_grundlagen02_1899/317>, abgerufen am 28.03.2024.