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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die intellektuelle Entwicklung ein Zweckzusammenhang.
in der letzten täuschenden Arbeit seines Lebens ist das Symbol
aller Helden der Geschichte, so gut als Faust, der mit Auge und
Hand des Herrschers Natur und Gesellschaft gestaltet.

Innerhalb dieses lebendigen Zweckzusammenhangs, welcher in
der Totalität der Menschennatur gegründet ist, hat sich allmälig
die intellektuelle Entwicklung des Menschengeschlechts in der
Wissenschaft abgesondert. -- Sie bildet einen vernünftigen Zusammen-
hang, der über das Individuum hinausreicht. Die Zweckthätigkeit der
einzelnen Menschen, die Schleiermacher als "Wissenwollen", andere
als "Wissenstrieb" bezeichnen (Namen für eine Thatsache des
Bewußtseins, nicht aber Erklärung dieser Thatsache), muß auf
die entsprechende Zweckthätigkeit anderer Menschen rechnen, dieselbe
aufnehmen und in sie hinübergreifen. Und zwar sind gerade Vor-
stellungen, Begriffe, Sätze einfach übertragbar. Darum findet in
diesem Zusammenhang oder System eine so stätige Fortentwicklung
statt, als auf keinem anderen Felde menschlichen Thuns. Obwohl
dieser Zweckzusammenhang der wissenschaftlichen Arbeit nicht durch
einen Gesammtwillen geleitet wird, sondern er vollzieht sich in
der freien Thätigkeit der einzelnen Individuen. -- Die allgemeine
Theorie dieses Systems ist Erkenntnißtheorie und Logik. Sie hat
das Verhältniß der Elemente in diesem vernünftigen Zusammen-
hang des im Menschengeschlecht sich vollziehenden Erkenntnißpro-
zesses zu einander, sofern es einer allgemeinen Fassung fähig ist,
zu ihrem Gegenstande 1). Somit sucht sie in dem über das In-
dividuum hinausreichenden Zusammenhang dieses Erkenntnißvor-
gangs Nothwendigkeit, Gleichförmigkeit und Gesetz. Ihr Material
ist die Geschichte der menschlichen Erkenntniß als Thatsache und
ihren Schlußpunkt bildet das zusammengesetzte Bildungsgesetz in
dieser Geschichte der Erkenntniß. -- Denn obgleich die Geschichte
der Wissenschaft theilweise durch sehr mächtige, zum Theil höchst
eigenwillige Individuen gemacht wird, obgleich die verschiedenen
Anlagen der Nationen auf diese Geschichte einwirken, das milieu
der Gesellschaft, in welchem dieser Erkenntnißvorgang sich vollzieht,
überall ihn mitbestimmt: dennoch zeigt die Geschichte des wissen-

1) Vergl. S. 55.

Die intellektuelle Entwicklung ein Zweckzuſammenhang.
in der letzten täuſchenden Arbeit ſeines Lebens iſt das Symbol
aller Helden der Geſchichte, ſo gut als Fauſt, der mit Auge und
Hand des Herrſchers Natur und Geſellſchaft geſtaltet.

Innerhalb dieſes lebendigen Zweckzuſammenhangs, welcher in
der Totalität der Menſchennatur gegründet iſt, hat ſich allmälig
die intellektuelle Entwicklung des Menſchengeſchlechts in der
Wiſſenſchaft abgeſondert. — Sie bildet einen vernünftigen Zuſammen-
hang, der über das Individuum hinausreicht. Die Zweckthätigkeit der
einzelnen Menſchen, die Schleiermacher als „Wiſſenwollen“, andere
als „Wiſſenstrieb“ bezeichnen (Namen für eine Thatſache des
Bewußtſeins, nicht aber Erklärung dieſer Thatſache), muß auf
die entſprechende Zweckthätigkeit anderer Menſchen rechnen, dieſelbe
aufnehmen und in ſie hinübergreifen. Und zwar ſind gerade Vor-
ſtellungen, Begriffe, Sätze einfach übertragbar. Darum findet in
dieſem Zuſammenhang oder Syſtem eine ſo ſtätige Fortentwicklung
ſtatt, als auf keinem anderen Felde menſchlichen Thuns. Obwohl
dieſer Zweckzuſammenhang der wiſſenſchaftlichen Arbeit nicht durch
einen Geſammtwillen geleitet wird, ſondern er vollzieht ſich in
der freien Thätigkeit der einzelnen Individuen. — Die allgemeine
Theorie dieſes Syſtems iſt Erkenntnißtheorie und Logik. Sie hat
das Verhältniß der Elemente in dieſem vernünftigen Zuſammen-
hang des im Menſchengeſchlecht ſich vollziehenden Erkenntnißpro-
zeſſes zu einander, ſofern es einer allgemeinen Faſſung fähig iſt,
zu ihrem Gegenſtande 1). Somit ſucht ſie in dem über das In-
dividuum hinausreichenden Zuſammenhang dieſes Erkenntnißvor-
gangs Nothwendigkeit, Gleichförmigkeit und Geſetz. Ihr Material
iſt die Geſchichte der menſchlichen Erkenntniß als Thatſache und
ihren Schlußpunkt bildet das zuſammengeſetzte Bildungsgeſetz in
dieſer Geſchichte der Erkenntniß. — Denn obgleich die Geſchichte
der Wiſſenſchaft theilweiſe durch ſehr mächtige, zum Theil höchſt
eigenwillige Individuen gemacht wird, obgleich die verſchiedenen
Anlagen der Nationen auf dieſe Geſchichte einwirken, das milieu
der Geſellſchaft, in welchem dieſer Erkenntnißvorgang ſich vollzieht,
überall ihn mitbeſtimmt: dennoch zeigt die Geſchichte des wiſſen-

1) Vergl. S. 55.
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[159/0182] Die intellektuelle Entwicklung ein Zweckzuſammenhang. in der letzten täuſchenden Arbeit ſeines Lebens iſt das Symbol aller Helden der Geſchichte, ſo gut als Fauſt, der mit Auge und Hand des Herrſchers Natur und Geſellſchaft geſtaltet. Innerhalb dieſes lebendigen Zweckzuſammenhangs, welcher in der Totalität der Menſchennatur gegründet iſt, hat ſich allmälig die intellektuelle Entwicklung des Menſchengeſchlechts in der Wiſſenſchaft abgeſondert. — Sie bildet einen vernünftigen Zuſammen- hang, der über das Individuum hinausreicht. Die Zweckthätigkeit der einzelnen Menſchen, die Schleiermacher als „Wiſſenwollen“, andere als „Wiſſenstrieb“ bezeichnen (Namen für eine Thatſache des Bewußtſeins, nicht aber Erklärung dieſer Thatſache), muß auf die entſprechende Zweckthätigkeit anderer Menſchen rechnen, dieſelbe aufnehmen und in ſie hinübergreifen. Und zwar ſind gerade Vor- ſtellungen, Begriffe, Sätze einfach übertragbar. Darum findet in dieſem Zuſammenhang oder Syſtem eine ſo ſtätige Fortentwicklung ſtatt, als auf keinem anderen Felde menſchlichen Thuns. Obwohl dieſer Zweckzuſammenhang der wiſſenſchaftlichen Arbeit nicht durch einen Geſammtwillen geleitet wird, ſondern er vollzieht ſich in der freien Thätigkeit der einzelnen Individuen. — Die allgemeine Theorie dieſes Syſtems iſt Erkenntnißtheorie und Logik. Sie hat das Verhältniß der Elemente in dieſem vernünftigen Zuſammen- hang des im Menſchengeſchlecht ſich vollziehenden Erkenntnißpro- zeſſes zu einander, ſofern es einer allgemeinen Faſſung fähig iſt, zu ihrem Gegenſtande 1). Somit ſucht ſie in dem über das In- dividuum hinausreichenden Zuſammenhang dieſes Erkenntnißvor- gangs Nothwendigkeit, Gleichförmigkeit und Geſetz. Ihr Material iſt die Geſchichte der menſchlichen Erkenntniß als Thatſache und ihren Schlußpunkt bildet das zuſammengeſetzte Bildungsgeſetz in dieſer Geſchichte der Erkenntniß. — Denn obgleich die Geſchichte der Wiſſenſchaft theilweiſe durch ſehr mächtige, zum Theil höchſt eigenwillige Individuen gemacht wird, obgleich die verſchiedenen Anlagen der Nationen auf dieſe Geſchichte einwirken, das milieu der Geſellſchaft, in welchem dieſer Erkenntnißvorgang ſich vollzieht, überall ihn mitbeſtimmt: dennoch zeigt die Geſchichte des wiſſen- 1) Vergl. S. 55.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/182>, abgerufen am 28.03.2024.