Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Der endliche Geist hat nur das Jetzt und Hier. Aber diese dürftige
Enge seines Seins erweitert er sich vorwärts mit seinen Hoffnungen und
Zwecken, rückwärts mit der Fülle seiner Erinnerungen. So ideell die
Zukunft und die Vergangenheit in sich zusammenschliessend, hat er ein
Analogon der Ewigkeit.

Er umleuchtet seine Gegenwart mit den Bildern der Vergangenheit,
die kein Sein und keine Dauer hat, ausser im Geist und durch ihn.
Die Erinnerung schafft ihm die Formen und die Stoffe seiner geistigen
Welt. (mnemen apanton mousometoR erganen. Aeschyl. Prom 470).

§. 7.

Nur was Menschengeist und Menschensinn gestaltet, geprägt, be-
rührt hat, nur die Menschenspur leuchtet uns wieder auf.

Prägend, formend, ordnend, in jeder Aeusserung giebt der Mensch
einen Ausdruck seines individuellen Wesens, seines Ich. Was von
solchen Ausdrücken und Abdrücken irgendwie, irgendwo vorhanden ist,
spricht zu uns, ist uns verständlich.

II. Die historische Methode.
§. 8.

Die Methode der historischen Forschung ist bestimmt durch den
morphologischen Charakter ihres Materials.

Das Wesen der historischen Methode ist forschend zu verstehn.

§. 9.

Die Möglichkeit des Verstehens beruht in der uns congenialen Art
der Aeusserungen, die als historisches Material vorliegen.

Sie ist dadurch bedingt, dass die geistig-sinnliche Natur des Menschen
jeden inneren Vorgang zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit äussert, in jeder
Aeusserung innere Vorgänge spiegelt. Wahrgenommen erregt die Aeusse-
rung, sich in das Innere des Wahrnehmenden projicirend, den gleichen
inneren Vorgang. Den Schrei der Angst vernehmend, empfinden wir
die Angst des Schreienden u. s. w.

Der endliche Geist hat nur das Jetzt und Hier. Aber diese dürftige
Enge seines Seins erweitert er sich vorwärts mit seinen Hoffnungen und
Zwecken, rückwärts mit der Fülle seiner Erinnerungen. So ideell die
Zukunft und die Vergangenheit in sich zusammenschliessend, hat er ein
Analogon der Ewigkeit.

Er umleuchtet seine Gegenwart mit den Bildern der Vergangenheit,
die kein Sein und keine Dauer hat, ausser im Geist und durch ihn.
Die Erinnerung schafft ihm die Formen und die Stoffe seiner geistigen
Welt. (μνήμην ἁπάντων μουσομήτοῤ ἐργάνην. Aeschyl. Prom 470).

§. 7.

Nur was Menschengeist und Menschensinn gestaltet, geprägt, be-
rührt hat, nur die Menschenspur leuchtet uns wieder auf.

Prägend, formend, ordnend, in jeder Aeusserung giebt der Mensch
einen Ausdruck seines individuellen Wesens, seines Ich. Was von
solchen Ausdrücken und Abdrücken irgendwie, irgendwo vorhanden ist,
spricht zu uns, ist uns verständlich.

II. Die historische Methode.
§. 8.

Die Methode der historischen Forschung ist bestimmt durch den
morphologischen Charakter ihres Materials.

Das Wesen der historischen Methode ist forschend zu verstehn.

§. 9.

Die Möglichkeit des Verstehens beruht in der uns congenialen Art
der Aeusserungen, die als historisches Material vorliegen.

Sie ist dadurch bedingt, dass die geistig-sinnliche Natur des Menschen
jeden inneren Vorgang zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit äussert, in jeder
Aeusserung innere Vorgänge spiegelt. Wahrgenommen erregt die Aeusse-
rung, sich in das Innere des Wahrnehmenden projicirend, den gleichen
inneren Vorgang. Den Schrei der Angst vernehmend, empfinden wir
die Angst des Schreienden u. s. w.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0018" n="9"/>
              <p>Der endliche Geist hat nur das Jetzt und Hier. Aber diese dürftige<lb/>
Enge seines Seins erweitert er sich vorwärts mit seinen Hoffnungen und<lb/>
Zwecken, rückwärts mit der Fülle seiner Erinnerungen. So ideell die<lb/>
Zukunft und die Vergangenheit in sich zusammenschliessend, hat er ein<lb/>
Analogon der Ewigkeit.</p><lb/>
              <p>Er umleuchtet seine Gegenwart mit den Bildern der Vergangenheit,<lb/>
die kein Sein und keine Dauer hat, ausser im Geist und durch ihn.<lb/>
Die Erinnerung schafft ihm die Formen und die Stoffe seiner geistigen<lb/>
Welt. (&#x03BC;&#x03BD;&#x03AE;&#x03BC;&#x03B7;&#x03BD; &#x1F01;&#x03C0;&#x03AC;&#x03BD;&#x03C4;&#x03C9;&#x03BD; &#x03BC;&#x03BF;&#x03C5;&#x03C3;&#x03BF;&#x03BC;&#x03AE;&#x03C4;&#x03BF;&#x1FE4; &#x1F10;&#x03C1;&#x03B3;&#x03AC;&#x03BD;&#x03B7;&#x03BD;. Aeschyl. Prom 470).</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 7.</head><lb/>
              <p>Nur was Menschengeist und Menschensinn gestaltet, geprägt, be-<lb/>
rührt hat, nur die Menschenspur leuchtet uns wieder auf.</p><lb/>
              <p>Prägend, formend, ordnend, in jeder Aeusserung giebt der Mensch<lb/>
einen Ausdruck seines individuellen Wesens, seines Ich. Was von<lb/>
solchen Ausdrücken und Abdrücken irgendwie, irgendwo vorhanden ist,<lb/>
spricht zu uns, ist uns verständlich.</p>
            </div>
          </div><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">II. Die historische Methode.</hi> </head><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 8.</head><lb/>
              <p>Die Methode der historischen Forschung ist bestimmt durch den<lb/>
morphologischen Charakter ihres Materials.</p><lb/>
              <p>Das Wesen der historischen Methode ist <hi rendition="#g">forschend zu verstehn</hi>.</p>
            </div><lb/>
            <div n="4">
              <head>§. 9.</head><lb/>
              <p>Die Möglichkeit des Verstehens beruht in der uns congenialen Art<lb/>
der Aeusserungen, die als historisches Material vorliegen.</p><lb/>
              <p>Sie ist dadurch bedingt, dass die geistig-sinnliche Natur des Menschen<lb/>
jeden inneren Vorgang zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit äussert, in jeder<lb/>
Aeusserung innere Vorgänge spiegelt. Wahrgenommen erregt die Aeusse-<lb/>
rung, sich in das Innere des Wahrnehmenden projicirend, den gleichen<lb/>
inneren Vorgang. Den Schrei der Angst vernehmend, empfinden wir<lb/>
die Angst des Schreienden u. s. w.</p><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[9/0018] Der endliche Geist hat nur das Jetzt und Hier. Aber diese dürftige Enge seines Seins erweitert er sich vorwärts mit seinen Hoffnungen und Zwecken, rückwärts mit der Fülle seiner Erinnerungen. So ideell die Zukunft und die Vergangenheit in sich zusammenschliessend, hat er ein Analogon der Ewigkeit. Er umleuchtet seine Gegenwart mit den Bildern der Vergangenheit, die kein Sein und keine Dauer hat, ausser im Geist und durch ihn. Die Erinnerung schafft ihm die Formen und die Stoffe seiner geistigen Welt. (μνήμην ἁπάντων μουσομήτοῤ ἐργάνην. Aeschyl. Prom 470). §. 7. Nur was Menschengeist und Menschensinn gestaltet, geprägt, be- rührt hat, nur die Menschenspur leuchtet uns wieder auf. Prägend, formend, ordnend, in jeder Aeusserung giebt der Mensch einen Ausdruck seines individuellen Wesens, seines Ich. Was von solchen Ausdrücken und Abdrücken irgendwie, irgendwo vorhanden ist, spricht zu uns, ist uns verständlich. II. Die historische Methode. §. 8. Die Methode der historischen Forschung ist bestimmt durch den morphologischen Charakter ihres Materials. Das Wesen der historischen Methode ist forschend zu verstehn. §. 9. Die Möglichkeit des Verstehens beruht in der uns congenialen Art der Aeusserungen, die als historisches Material vorliegen. Sie ist dadurch bedingt, dass die geistig-sinnliche Natur des Menschen jeden inneren Vorgang zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit äussert, in jeder Aeusserung innere Vorgänge spiegelt. Wahrgenommen erregt die Aeusse- rung, sich in das Innere des Wahrnehmenden projicirend, den gleichen inneren Vorgang. Den Schrei der Angst vernehmend, empfinden wir die Angst des Schreienden u. s. w.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/18
Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/18>, abgerufen am 29.03.2024.