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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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Natur; aber sie entfalten sich erst in der fortschreitenden Geschichte;
ihre Entfaltung ist deren Werden und Wachsen.

Das ethische System irgend einer Zeit ist nur die speculative Fas-
sung und Zusammenfassung des bis dahin Entfalteten, nur ein Mittel,
nur ein Versuch, das Gewordene und Seiende nach seiner Einheit und
Wahrheit zu erkennen.

Jede Zeit ist ein Complex von Verwirklichungen aller sittlichen
Ideen, wie hoch oder niedrig ihre Entfaltung, wie eingehüllt noch das
Höhere in dem Niederen (Staat in Familienform u. s. w.) sein mag.

§. 43.

Die Ideen in einem Sachverlauf wird man entweder nach ihrer
Gleichzeitigkeit, als den ethischen Horizont, innerhalb dessen er sich
vollzog, oder nach ihrer in jedem Punkt fortschreitenden Bewegung
betrachten.

In der Bewegung ist bald diese, bald jene Idee voran, in momentan
bestimmender Gestaltung -- als Gedanke dieses Mannes, dieses
Volkes u. s. w. den wesentlich weiteren Schritt zu thun.

Der Gedanke oder Gedankencomplex, den die Interpretation in
einem Sachverlauf aufweiset, ist uns die Wahrheit dieses Sachver-
laufes. Dieser Sachverlauf ist die Wirklichkeit, die Erscheinungsform
dieser Gedanken. In diesen Gedanken verstehen wir ihn; wir ver-
stehen aus ihm diese Gedanken.

In den Richtigkeiten des Thatbestandes haben sich die Gedanken
des Sachverlaufes zu bewähren und umgekehrt.

IV. Die Darstellung.
§. 44.

Da der Geist nur dessen, was er sich gegenständlich macht,
gewiss und mächtig ist, es nur hat so weit er es gestaltet, so fordert
das in der Forschung Gewonnene eine entsprechende Darstellung (istorigs
apodeixis Herod.).

Es ist ein Irrthum, zu glauben, dass die Forschung Alles, und ihre

Natur; aber sie entfalten sich erst in der fortschreitenden Geschichte;
ihre Entfaltung ist deren Werden und Wachsen.

Das ethische System irgend einer Zeit ist nur die speculative Fas-
sung und Zusammenfassung des bis dahin Entfalteten, nur ein Mittel,
nur ein Versuch, das Gewordene und Seiende nach seiner Einheit und
Wahrheit zu erkennen.

Jede Zeit ist ein Complex von Verwirklichungen aller sittlichen
Ideen, wie hoch oder niedrig ihre Entfaltung, wie eingehüllt noch das
Höhere in dem Niederen (Staat in Familienform u. s. w.) sein mag.

§. 43.

Die Ideen in einem Sachverlauf wird man entweder nach ihrer
Gleichzeitigkeit, als den ethischen Horizont, innerhalb dessen er sich
vollzog, oder nach ihrer in jedem Punkt fortschreitenden Bewegung
betrachten.

In der Bewegung ist bald diese, bald jene Idee voran, in momentan
bestimmender Gestaltung — als Gedanke dieses Mannes, dieses
Volkes u. s. w. den wesentlich weiteren Schritt zu thun.

Der Gedanke oder Gedankencomplex, den die Interpretation in
einem Sachverlauf aufweiset, ist uns die Wahrheit dieses Sachver-
laufes. Dieser Sachverlauf ist die Wirklichkeit, die Erscheinungsform
dieser Gedanken. In diesen Gedanken verstehen wir ihn; wir ver-
stehen aus ihm diese Gedanken.

In den Richtigkeiten des Thatbestandes haben sich die Gedanken
des Sachverlaufes zu bewähren und umgekehrt.

IV. Die Darstellung.
§. 44.

Da der Geist nur dessen, was er sich gegenständlich macht,
gewiss und mächtig ist, es nur hat so weit er es gestaltet, so fordert
das in der Forschung Gewonnene eine entsprechende Darstellung (ἱστορίγς
ἀπόδειξις Herod.).

Es ist ein Irrthum, zu glauben, dass die Forschung Alles, und ihre

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[22/0031] Natur; aber sie entfalten sich erst in der fortschreitenden Geschichte; ihre Entfaltung ist deren Werden und Wachsen. Das ethische System irgend einer Zeit ist nur die speculative Fas- sung und Zusammenfassung des bis dahin Entfalteten, nur ein Mittel, nur ein Versuch, das Gewordene und Seiende nach seiner Einheit und Wahrheit zu erkennen. Jede Zeit ist ein Complex von Verwirklichungen aller sittlichen Ideen, wie hoch oder niedrig ihre Entfaltung, wie eingehüllt noch das Höhere in dem Niederen (Staat in Familienform u. s. w.) sein mag. §. 43. Die Ideen in einem Sachverlauf wird man entweder nach ihrer Gleichzeitigkeit, als den ethischen Horizont, innerhalb dessen er sich vollzog, oder nach ihrer in jedem Punkt fortschreitenden Bewegung betrachten. In der Bewegung ist bald diese, bald jene Idee voran, in momentan bestimmender Gestaltung — als Gedanke dieses Mannes, dieses Volkes u. s. w. den wesentlich weiteren Schritt zu thun. Der Gedanke oder Gedankencomplex, den die Interpretation in einem Sachverlauf aufweiset, ist uns die Wahrheit dieses Sachver- laufes. Dieser Sachverlauf ist die Wirklichkeit, die Erscheinungsform dieser Gedanken. In diesen Gedanken verstehen wir ihn; wir ver- stehen aus ihm diese Gedanken. In den Richtigkeiten des Thatbestandes haben sich die Gedanken des Sachverlaufes zu bewähren und umgekehrt. IV. Die Darstellung. §. 44. Da der Geist nur dessen, was er sich gegenständlich macht, gewiss und mächtig ist, es nur hat so weit er es gestaltet, so fordert das in der Forschung Gewonnene eine entsprechende Darstellung (ἱστορίγς ἀπόδειξις Herod.). Es ist ein Irrthum, zu glauben, dass die Forschung Alles, und ihre

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/31>, abgerufen am 28.03.2024.