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Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864.

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Verstört und beängstigt schaute sie im Kreise Derer,
die sie am meisten liebte, umher. Endlich erkannte sie
Einen nach dem Andern, strich mit der Fläche der Hand
über ihre bleiche Stirn, als wolle sie einen Schleier von
derselben entfernen, lächelte jeden Einzelnen freundlich an
und schloß dann wiederum die Augen. Sie wähnte, die
gütige Jsis habe ihr ein süßes Traumbild bescheert, und
versuchte dasselbe mit aller Kraft ihrer Seele festzuhalten.

Da rief Atossa ihren Namen mit ungestümer Zärt-
lichkeit. -- Von Neuem schlug sie die Augen auf und be-
gegnete abermals denselben liebevollen Blicken, von denen
sie geträumt zu haben glaubte. Ja, das war ihre Atossa,
das ihre mütterliche Freundin, das, nicht der zürnende
König, sondern der Mann, der sie liebte. -- Jetzt öffnete
auch er die Lippen und rief, sein strenges Herrscherauge
flehentlich zu ihr aufschlagend: "O Nitetis, erwache! Du
darfst, Du kannst nicht schuldig sein!" Freudig verneinend
bewegte sie leise ihr Haupt, und über ihre schönen Züge
schwebte, wie der Hauch des jungen Lenzes über Rosen-
beete, ein wonniges Lächeln.

"Sie ist unschuldig; beim Mithra, sie kann nicht
schuldig sein!" rief Kambyses zum Andernmale und stürzte,
der Anwesenden nicht achtend, auf die Kniee nieder.

Ein persischer Heilkünstler näherte sich jetzt der Ge-
retteten und bestrich ihre Schläfen mit einem, süßen Duft
verbreitenden, Salböl, während der Augenarzt Nebenchari
Beschwörungsformeln murmelnd, kopfschüttelnd ihren Puls
befühlte und ihr einen Trank aus seiner Handapotheke
reichte. Nun gewann sie ihre volle Besinnung wieder und
fragte, sich an Kambyses wendend, nachdem sie sich müh-
sam aufgerichtet und die Liebesbezeugungen der Freundin-
nen erwiedert hatte: "Wie konntest Du Solches von mir

Verſtört und beängſtigt ſchaute ſie im Kreiſe Derer,
die ſie am meiſten liebte, umher. Endlich erkannte ſie
Einen nach dem Andern, ſtrich mit der Fläche der Hand
über ihre bleiche Stirn, als wolle ſie einen Schleier von
derſelben entfernen, lächelte jeden Einzelnen freundlich an
und ſchloß dann wiederum die Augen. Sie wähnte, die
gütige Jſis habe ihr ein ſüßes Traumbild beſcheert, und
verſuchte daſſelbe mit aller Kraft ihrer Seele feſtzuhalten.

Da rief Atoſſa ihren Namen mit ungeſtümer Zärt-
lichkeit. — Von Neuem ſchlug ſie die Augen auf und be-
gegnete abermals denſelben liebevollen Blicken, von denen
ſie geträumt zu haben glaubte. Ja, das war ihre Atoſſa,
das ihre mütterliche Freundin, das, nicht der zürnende
König, ſondern der Mann, der ſie liebte. — Jetzt öffnete
auch er die Lippen und rief, ſein ſtrenges Herrſcherauge
flehentlich zu ihr aufſchlagend: „O Nitetis, erwache! Du
darfſt, Du kannſt nicht ſchuldig ſein!“ Freudig verneinend
bewegte ſie leiſe ihr Haupt, und über ihre ſchönen Züge
ſchwebte, wie der Hauch des jungen Lenzes über Roſen-
beete, ein wonniges Lächeln.

„Sie iſt unſchuldig; beim Mithra, ſie kann nicht
ſchuldig ſein!“ rief Kambyſes zum Andernmale und ſtürzte,
der Anweſenden nicht achtend, auf die Kniee nieder.

Ein perſiſcher Heilkünſtler näherte ſich jetzt der Ge-
retteten und beſtrich ihre Schläfen mit einem, ſüßen Duft
verbreitenden, Salböl, während der Augenarzt Nebenchari
Beſchwörungsformeln murmelnd, kopfſchüttelnd ihren Puls
befühlte und ihr einen Trank aus ſeiner Handapotheke
reichte. Nun gewann ſie ihre volle Beſinnung wieder und
fragte, ſich an Kambyſes wendend, nachdem ſie ſich müh-
ſam aufgerichtet und die Liebesbezeugungen der Freundin-
nen erwiedert hatte: „Wie konnteſt Du Solches von mir

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[233/0235] Verſtört und beängſtigt ſchaute ſie im Kreiſe Derer, die ſie am meiſten liebte, umher. Endlich erkannte ſie Einen nach dem Andern, ſtrich mit der Fläche der Hand über ihre bleiche Stirn, als wolle ſie einen Schleier von derſelben entfernen, lächelte jeden Einzelnen freundlich an und ſchloß dann wiederum die Augen. Sie wähnte, die gütige Jſis habe ihr ein ſüßes Traumbild beſcheert, und verſuchte daſſelbe mit aller Kraft ihrer Seele feſtzuhalten. Da rief Atoſſa ihren Namen mit ungeſtümer Zärt- lichkeit. — Von Neuem ſchlug ſie die Augen auf und be- gegnete abermals denſelben liebevollen Blicken, von denen ſie geträumt zu haben glaubte. Ja, das war ihre Atoſſa, das ihre mütterliche Freundin, das, nicht der zürnende König, ſondern der Mann, der ſie liebte. — Jetzt öffnete auch er die Lippen und rief, ſein ſtrenges Herrſcherauge flehentlich zu ihr aufſchlagend: „O Nitetis, erwache! Du darfſt, Du kannſt nicht ſchuldig ſein!“ Freudig verneinend bewegte ſie leiſe ihr Haupt, und über ihre ſchönen Züge ſchwebte, wie der Hauch des jungen Lenzes über Roſen- beete, ein wonniges Lächeln. „Sie iſt unſchuldig; beim Mithra, ſie kann nicht ſchuldig ſein!“ rief Kambyſes zum Andernmale und ſtürzte, der Anweſenden nicht achtend, auf die Kniee nieder. Ein perſiſcher Heilkünſtler näherte ſich jetzt der Ge- retteten und beſtrich ihre Schläfen mit einem, ſüßen Duft verbreitenden, Salböl, während der Augenarzt Nebenchari Beſchwörungsformeln murmelnd, kopfſchüttelnd ihren Puls befühlte und ihr einen Trank aus ſeiner Handapotheke reichte. Nun gewann ſie ihre volle Beſinnung wieder und fragte, ſich an Kambyſes wendend, nachdem ſie ſich müh- ſam aufgerichtet und die Liebesbezeugungen der Freundin- nen erwiedert hatte: „Wie konnteſt Du Solches von mir

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Zitationshilfe: Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 2. Stuttgart, 1864, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter02_1864/235>, abgerufen am 28.03.2024.