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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836.

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viel zu fragen, wie er dazu gekommen. Ein sorgfältiges
Motiviren war, wie ich schon gesagt, nicht seine Sache,
woher denn auch die größere Theater-Wirkung seiner
Stücke kommen mag."


Goethe erzählte mir von einem Knaben, der sich
über einen begangenen kleinen Fehler nicht habe beruhi¬
gen können.

"Es war mir nicht lieb, dieses zu bemerken, sagte
er, denn es zeugt von einem zu zarten Gewissen, wel¬
ches das eigene moralische Selbst so hoch schätzet, daß
es ihm nichts verzeihen will. Ein solches Gewissen
macht hypochondrische Menschen, wenn es nicht durch
eine große Thätigkeit balancirt wird."

Man hatte mir in diesen Tagen ein Nest junger
Grasemücken gebracht, nebst einem der Alten, den man
in Leimruthen gefangen. Nun hatte ich zu bewundern,
wie der Vogel nicht allein im Zimmer fortfuhr seine
Jungen zu füttern, sondern wie er sogar, aus dem
Fenster frey gelassen, wieder zu den Jungen zurück¬
kehrte. Eine solche, Gefahr und Gefangenschaft über¬
windende, elterliche Liebe rührte mich innig, und ich
äußerte mein Erstaunen darüber heute gegen Goethe.
"Närrischer Mensch! antwortete er mir lächelnd bedeu¬

viel zu fragen, wie er dazu gekommen. Ein ſorgfaͤltiges
Motiviren war, wie ich ſchon geſagt, nicht ſeine Sache,
woher denn auch die groͤßere Theater-Wirkung ſeiner
Stuͤcke kommen mag.“


Goethe erzaͤhlte mir von einem Knaben, der ſich
uͤber einen begangenen kleinen Fehler nicht habe beruhi¬
gen koͤnnen.

„Es war mir nicht lieb, dieſes zu bemerken, ſagte
er, denn es zeugt von einem zu zarten Gewiſſen, wel¬
ches das eigene moraliſche Selbſt ſo hoch ſchaͤtzet, daß
es ihm nichts verzeihen will. Ein ſolches Gewiſſen
macht hypochondriſche Menſchen, wenn es nicht durch
eine große Thaͤtigkeit balancirt wird.“

Man hatte mir in dieſen Tagen ein Neſt junger
Graſemuͤcken gebracht, nebſt einem der Alten, den man
in Leimruthen gefangen. Nun hatte ich zu bewundern,
wie der Vogel nicht allein im Zimmer fortfuhr ſeine
Jungen zu fuͤttern, ſondern wie er ſogar, aus dem
Fenſter frey gelaſſen, wieder zu den Jungen zuruͤck¬
kehrte. Eine ſolche, Gefahr und Gefangenſchaft uͤber¬
windende, elterliche Liebe ruͤhrte mich innig, und ich
aͤußerte mein Erſtaunen daruͤber heute gegen Goethe.
„Naͤrriſcher Menſch! antwortete er mir laͤchelnd bedeu¬

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[347/0357] viel zu fragen, wie er dazu gekommen. Ein ſorgfaͤltiges Motiviren war, wie ich ſchon geſagt, nicht ſeine Sache, woher denn auch die groͤßere Theater-Wirkung ſeiner Stuͤcke kommen mag.“ Sonntag den 29. May 1831. Goethe erzaͤhlte mir von einem Knaben, der ſich uͤber einen begangenen kleinen Fehler nicht habe beruhi¬ gen koͤnnen. „Es war mir nicht lieb, dieſes zu bemerken, ſagte er, denn es zeugt von einem zu zarten Gewiſſen, wel¬ ches das eigene moraliſche Selbſt ſo hoch ſchaͤtzet, daß es ihm nichts verzeihen will. Ein ſolches Gewiſſen macht hypochondriſche Menſchen, wenn es nicht durch eine große Thaͤtigkeit balancirt wird.“ Man hatte mir in dieſen Tagen ein Neſt junger Graſemuͤcken gebracht, nebſt einem der Alten, den man in Leimruthen gefangen. Nun hatte ich zu bewundern, wie der Vogel nicht allein im Zimmer fortfuhr ſeine Jungen zu fuͤttern, ſondern wie er ſogar, aus dem Fenſter frey gelaſſen, wieder zu den Jungen zuruͤck¬ kehrte. Eine ſolche, Gefahr und Gefangenſchaft uͤber¬ windende, elterliche Liebe ruͤhrte mich innig, und ich aͤußerte mein Erſtaunen daruͤber heute gegen Goethe. „Naͤrriſcher Menſch! antwortete er mir laͤchelnd bedeu¬

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 347. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/357>, abgerufen am 25.04.2024.