Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

Bild:
<< vorherige Seite
Einundzwanzigstes Kapitel.

Der Morgen stieg dampfend aus den Wäldern,
als die beyden Grafen schon ferne über einen ein¬
samen Wiesengrund hinritten, der seltsamen Ereig¬
nisse dieser Nacht gedenkend. Der Weg war für
jeden Fremdling fast ungangbar, die Entfernung,
die sie in den wenigen Stunden zurückgelegt, ziem¬
lich beträchtlich, sie konnten schon langsamer und
gemächlicher zieh'n. Da erzählte Leontin Friedrich'n
Folgendes:

Es war ein schöner Sommermorgen, da Julie
in ihrem Schlafzimmer, das, wie Du weißt, auf
den Garten hinausgeht, noch schlummerte, als sie
draussen von einer bekannten Stimme mit einem be¬
kannten Liede geweckt wurde. Sie trat in den
Garten hinaus und sah Erwin, der wieder auf der
Blumenterrasse saß und in das glänzende Land hin¬
aussang. Mit pochendem Herzen flog sie zu ihm
und fragte ihn nach seinen Herren. Der Knabe sah
sie aber starr an, er war blaß und seltsam verwil¬
dert im Gesichte, und aus seinen verwirrten Ant¬
worten bemerkte sie bald mit Schrecken, daß er
verrückt sey. -- In solchem Gemüthszustande hatte
er uns nemlich in jener Nacht auf dem Rheine so
unbegreiflich verlassen, und auf unzähligen Umwe¬

Einundzwanzigſtes Kapitel.

Der Morgen ſtieg dampfend aus den Wäldern,
als die beyden Grafen ſchon ferne über einen ein¬
ſamen Wieſengrund hinritten, der ſeltſamen Ereig¬
niſſe dieſer Nacht gedenkend. Der Weg war für
jeden Fremdling faſt ungangbar, die Entfernung,
die ſie in den wenigen Stunden zurückgelegt, ziem¬
lich beträchtlich, ſie konnten ſchon langſamer und
gemächlicher zieh'n. Da erzählte Leontin Friedrich'n
Folgendes:

Es war ein ſchöner Sommermorgen, da Julie
in ihrem Schlafzimmer, das, wie Du weißt, auf
den Garten hinausgeht, noch ſchlummerte, als ſie
drauſſen von einer bekannten Stimme mit einem be¬
kannten Liede geweckt wurde. Sie trat in den
Garten hinaus und ſah Erwin, der wieder auf der
Blumenterraſſe ſaß und in das glänzende Land hin¬
ausſang. Mit pochendem Herzen flog ſie zu ihm
und fragte ihn nach ſeinen Herren. Der Knabe ſah
ſie aber ſtarr an, er war blaß und ſeltſam verwil¬
dert im Geſichte, und aus ſeinen verwirrten Ant¬
worten bemerkte ſie bald mit Schrecken, daß er
verrückt ſey. — In ſolchem Gemüthszuſtande hatte
er uns nemlich in jener Nacht auf dem Rheine ſo
unbegreiflich verlaſſen, und auf unzähligen Umwe¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0388" n="382"/>
        </div>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#g">Einundzwanzig&#x017F;tes Kapitel</hi>.<lb/></head>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <p>Der Morgen &#x017F;tieg dampfend aus den Wäldern,<lb/>
als die beyden Grafen &#x017F;chon ferne über einen ein¬<lb/>
&#x017F;amen Wie&#x017F;engrund hinritten, der &#x017F;elt&#x017F;amen Ereig¬<lb/>
ni&#x017F;&#x017F;e die&#x017F;er Nacht gedenkend. Der Weg war für<lb/>
jeden Fremdling fa&#x017F;t ungangbar, die Entfernung,<lb/>
die &#x017F;ie in den wenigen Stunden zurückgelegt, ziem¬<lb/>
lich beträchtlich, &#x017F;ie konnten &#x017F;chon lang&#x017F;amer und<lb/>
gemächlicher zieh'n. Da erzählte Leontin Friedrich'n<lb/>
Folgendes:</p><lb/>
          <p>Es war ein &#x017F;chöner Sommermorgen, da Julie<lb/>
in ihrem Schlafzimmer, das, wie Du weißt, auf<lb/>
den Garten hinausgeht, noch &#x017F;chlummerte, als &#x017F;ie<lb/>
drau&#x017F;&#x017F;en von einer bekannten Stimme mit einem be¬<lb/>
kannten Liede geweckt wurde. Sie trat in den<lb/>
Garten hinaus und &#x017F;ah Erwin, der wieder auf der<lb/>
Blumenterra&#x017F;&#x017F;e &#x017F;aß und in das glänzende Land hin¬<lb/>
aus&#x017F;ang. Mit pochendem Herzen flog &#x017F;ie zu ihm<lb/>
und fragte ihn nach &#x017F;einen Herren. Der Knabe &#x017F;ah<lb/>
&#x017F;ie aber &#x017F;tarr an, er war blaß und &#x017F;elt&#x017F;am verwil¬<lb/>
dert im Ge&#x017F;ichte, und aus &#x017F;einen verwirrten Ant¬<lb/>
worten bemerkte &#x017F;ie bald mit Schrecken, daß er<lb/>
verrückt &#x017F;ey. &#x2014; In &#x017F;olchem Gemüthszu&#x017F;tande hatte<lb/>
er uns nemlich in jener Nacht auf dem Rheine &#x017F;o<lb/>
unbegreiflich verla&#x017F;&#x017F;en, und auf unzähligen Umwe¬<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[382/0388] Einundzwanzigſtes Kapitel. Der Morgen ſtieg dampfend aus den Wäldern, als die beyden Grafen ſchon ferne über einen ein¬ ſamen Wieſengrund hinritten, der ſeltſamen Ereig¬ niſſe dieſer Nacht gedenkend. Der Weg war für jeden Fremdling faſt ungangbar, die Entfernung, die ſie in den wenigen Stunden zurückgelegt, ziem¬ lich beträchtlich, ſie konnten ſchon langſamer und gemächlicher zieh'n. Da erzählte Leontin Friedrich'n Folgendes: Es war ein ſchöner Sommermorgen, da Julie in ihrem Schlafzimmer, das, wie Du weißt, auf den Garten hinausgeht, noch ſchlummerte, als ſie drauſſen von einer bekannten Stimme mit einem be¬ kannten Liede geweckt wurde. Sie trat in den Garten hinaus und ſah Erwin, der wieder auf der Blumenterraſſe ſaß und in das glänzende Land hin¬ ausſang. Mit pochendem Herzen flog ſie zu ihm und fragte ihn nach ſeinen Herren. Der Knabe ſah ſie aber ſtarr an, er war blaß und ſeltſam verwil¬ dert im Geſichte, und aus ſeinen verwirrten Ant¬ worten bemerkte ſie bald mit Schrecken, daß er verrückt ſey. — In ſolchem Gemüthszuſtande hatte er uns nemlich in jener Nacht auf dem Rheine ſo unbegreiflich verlaſſen, und auf unzähligen Umwe¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/388
Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/388>, abgerufen am 20.04.2024.