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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Schlußanwendung.

In dem entwickelten Widerspruch zwischen Glaube und
Liebe haben wir den praktischen, handgreiflichen Nöthigungs-
grund, über das Christenthum, über das eigenthümliche We-
sen der Religion überhaupt uns zu erheben. Wir haben be-
wiesen, daß der Inhalt und Gegenstand der Religion ein
durchaus menschlicher ist, und zwar menschlicher in dem
doppelten Sinne dieses Wortes, in welchem es eben sowohl
etwas Positives, als Negatives bedeutet, daß die Religion
nicht nur die Mächte des menschlichen Wesens, sondern selbst
auch die Schwachheiten, die subjectivsten Wünsche des mensch-
lichen Herzens, wie z. B. in den Wundern, unbedingt be-
jaht -- bewiesen, daß auch die göttliche Weisheit mensch-
liche Weisheit
, daß das Geheimniß der Theologie die
Anthropologie, des absoluten Geistes der sogenannte end-
liche subjective Geist ist. Aber die Religion hat nicht das
Bewußtsein von der Menschlichkeit ihres Inhalts; sie setzt sich
vielmehr dem Menschlichen entgegen, oder wenigstens sie ge-
steht nicht ein
, daß ihr Inhalt menschlicher ist. Der noth-
wendige Wendepunkt der Geschichte ist daher dieses offne Be-
kenntniß und Eingeständniß
, daß das Bewußtsein Got-
tes nichts andres ist als das Bewußtsein der Gattung, daß
der Mensch sich nur über die Schranken seiner Individualität
erheben kann und soll, aber nicht über die Gesetze, die posi-
tiven Wesensbestimmungen seiner Gattung
, daß der
Mensch kein andres Wesen als absolutes Wesen denken,
ahnden, vorstellen, fühlen, glauben, wollen, lieben und ver-
ehren kann als das Wesen der menschlichen Natur*).

*) Mit Einschluß der Natur, denn wie der Mensch zum We-
sen der
Natur -- dieß gilt gegen den gemeinen Materialismus --
Feuerbach. 24
Schlußanwendung.

In dem entwickelten Widerſpruch zwiſchen Glaube und
Liebe haben wir den praktiſchen, handgreiflichen Nöthigungs-
grund, über das Chriſtenthum, über das eigenthümliche We-
ſen der Religion überhaupt uns zu erheben. Wir haben be-
wieſen, daß der Inhalt und Gegenſtand der Religion ein
durchaus menſchlicher iſt, und zwar menſchlicher in dem
doppelten Sinne dieſes Wortes, in welchem es eben ſowohl
etwas Poſitives, als Negatives bedeutet, daß die Religion
nicht nur die Mächte des menſchlichen Weſens, ſondern ſelbſt
auch die Schwachheiten, die ſubjectivſten Wünſche des menſch-
lichen Herzens, wie z. B. in den Wundern, unbedingt be-
jaht — bewieſen, daß auch die göttliche Weisheit menſch-
liche Weisheit
, daß das Geheimniß der Theologie die
Anthropologie, des abſoluten Geiſtes der ſogenannte end-
liche ſubjective Geiſt iſt. Aber die Religion hat nicht das
Bewußtſein von der Menſchlichkeit ihres Inhalts; ſie ſetzt ſich
vielmehr dem Menſchlichen entgegen, oder wenigſtens ſie ge-
ſteht nicht ein
, daß ihr Inhalt menſchlicher iſt. Der noth-
wendige Wendepunkt der Geſchichte iſt daher dieſes offne Be-
kenntniß und Eingeſtändniß
, daß das Bewußtſein Got-
tes nichts andres iſt als das Bewußtſein der Gattung, daß
der Menſch ſich nur über die Schranken ſeiner Individualität
erheben kann und ſoll, aber nicht über die Geſetze, die poſi-
tiven Weſensbeſtimmungen ſeiner Gattung
, daß der
Menſch kein andres Weſen als abſolutes Weſen denken,
ahnden, vorſtellen, fühlen, glauben, wollen, lieben und ver-
ehren kann als das Weſen der menſchlichen Natur*).

*) Mit Einſchluß der Natur, denn wie der Menſch zum We-
ſen der
Natur — dieß gilt gegen den gemeinen Materialismus
Feuerbach. 24
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[369/0387] Schlußanwendung. In dem entwickelten Widerſpruch zwiſchen Glaube und Liebe haben wir den praktiſchen, handgreiflichen Nöthigungs- grund, über das Chriſtenthum, über das eigenthümliche We- ſen der Religion überhaupt uns zu erheben. Wir haben be- wieſen, daß der Inhalt und Gegenſtand der Religion ein durchaus menſchlicher iſt, und zwar menſchlicher in dem doppelten Sinne dieſes Wortes, in welchem es eben ſowohl etwas Poſitives, als Negatives bedeutet, daß die Religion nicht nur die Mächte des menſchlichen Weſens, ſondern ſelbſt auch die Schwachheiten, die ſubjectivſten Wünſche des menſch- lichen Herzens, wie z. B. in den Wundern, unbedingt be- jaht — bewieſen, daß auch die göttliche Weisheit menſch- liche Weisheit, daß das Geheimniß der Theologie die Anthropologie, des abſoluten Geiſtes der ſogenannte end- liche ſubjective Geiſt iſt. Aber die Religion hat nicht das Bewußtſein von der Menſchlichkeit ihres Inhalts; ſie ſetzt ſich vielmehr dem Menſchlichen entgegen, oder wenigſtens ſie ge- ſteht nicht ein, daß ihr Inhalt menſchlicher iſt. Der noth- wendige Wendepunkt der Geſchichte iſt daher dieſes offne Be- kenntniß und Eingeſtändniß, daß das Bewußtſein Got- tes nichts andres iſt als das Bewußtſein der Gattung, daß der Menſch ſich nur über die Schranken ſeiner Individualität erheben kann und ſoll, aber nicht über die Geſetze, die poſi- tiven Weſensbeſtimmungen ſeiner Gattung, daß der Menſch kein andres Weſen als abſolutes Weſen denken, ahnden, vorſtellen, fühlen, glauben, wollen, lieben und ver- ehren kann als das Weſen der menſchlichen Natur *). *) Mit Einſchluß der Natur, denn wie der Menſch zum We- ſen der Natur — dieß gilt gegen den gemeinen Materialismus — Feuerbach. 24

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 369. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/387>, abgerufen am 28.03.2024.