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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

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Begattung. Nur die Wesen verstehen sich, die zu einer Gat-
tung gehören; der Mittheilungstrieb ist der geistige Geschlechts-
trieb. In der Vernunft sieht sich der Mensch im Ganzen ver-
schwinden; die Vernunft ist der Anblick des Sternenhimmels,
der Anblick des Weltmeers, der Anblick einer unbegränz-
ten Ebene, das Gemüth der Anblick des menschenfreund-
lichen Mondes, der Anblick des sanftmurmelnden Mühlbaches,
der Anblick eines abgeschlossenen eng begränzten Thales. Das
Herz contrahirt, die Vernunft expandirt den Menschen --
Unterschiede, die alle nur in der Antithese Gültigkeit haben,
denn auch die Vernunft contrahirt, auch das Herz expandirt,
aber in anderer Art. Die Vernunft ist kalt, weil sie nicht dem
Menschen schmeichelt, nicht ihm allein das Wort redet; das
Herz aber ist der Mensch, der nur allein für sich Partei
nimmt. Das Herz erbarmt sich wohl auch der Thiere, aber
nur, weil auch das Thier ein Herz hat. Das Herz liebt nur,
was es mit sich selbst identificirt. Was Du diesem
Wesen anthust, das thust Du mir selbst an. Das Herz liebt
überall nur sich selbst, kommt nicht über sich hinaus; das Herz
gibt uns nicht den Begriff eines Andern, eines von Uns
Unterschiedenen. Die Vernunft dagegen erbarmt sich der
Thiere, nicht weil sie sich selbst in ihnen findet oder sie mit
dem Menschen identificirt, sondern weil sie dieselben als vom
Menschen unterschiedne, nicht nur um des Menschen willen
existirende, sondern auch als selbstberechtigte Wesen anerkennt.
Das Herz opfert die Gattung dem Individuum, die Vernunft
das Individuum der Gattung auf. Der Mensch ohne Ge-
müth ist ein Mensch, der keinen eignen Heerd hat. Das Ge-
müth ist das Hauswesen, die Vernunft die Res publica
des Menschen. Die Vernunft ist die Wahrheit der Na-
tur
, das Herz die Wahrheit des Menschen. Populä-
rer: die Vernunft ist der Gott der Natur, das Herz
der Gott des Menschen. Alles, was der Mensch
wünscht, aber die Vernunft, aber die Natur versagt, ge-
währt ihm das Herz. Gott, Unsterblichkeit, Freiheit im su-

Begattung. Nur die Weſen verſtehen ſich, die zu einer Gat-
tung gehören; der Mittheilungstrieb iſt der geiſtige Geſchlechts-
trieb. In der Vernunft ſieht ſich der Menſch im Ganzen ver-
ſchwinden; die Vernunft iſt der Anblick des Sternenhimmels,
der Anblick des Weltmeers, der Anblick einer unbegränz-
ten Ebene, das Gemüth der Anblick des menſchenfreund-
lichen Mondes, der Anblick des ſanftmurmelnden Mühlbaches,
der Anblick eines abgeſchloſſenen eng begränzten Thales. Das
Herz contrahirt, die Vernunft expandirt den Menſchen —
Unterſchiede, die alle nur in der Antitheſe Gültigkeit haben,
denn auch die Vernunft contrahirt, auch das Herz expandirt,
aber in anderer Art. Die Vernunft iſt kalt, weil ſie nicht dem
Menſchen ſchmeichelt, nicht ihm allein das Wort redet; das
Herz aber iſt der Menſch, der nur allein für ſich Partei
nimmt. Das Herz erbarmt ſich wohl auch der Thiere, aber
nur, weil auch das Thier ein Herz hat. Das Herz liebt nur,
was es mit ſich ſelbſt identificirt. Was Du dieſem
Weſen anthuſt, das thuſt Du mir ſelbſt an. Das Herz liebt
überall nur ſich ſelbſt, kommt nicht über ſich hinaus; das Herz
gibt uns nicht den Begriff eines Andern, eines von Uns
Unterſchiedenen. Die Vernunft dagegen erbarmt ſich der
Thiere, nicht weil ſie ſich ſelbſt in ihnen findet oder ſie mit
dem Menſchen identificirt, ſondern weil ſie dieſelben als vom
Menſchen unterſchiedne, nicht nur um des Menſchen willen
exiſtirende, ſondern auch als ſelbſtberechtigte Weſen anerkennt.
Das Herz opfert die Gattung dem Individuum, die Vernunft
das Individuum der Gattung auf. Der Menſch ohne Ge-
müth iſt ein Menſch, der keinen eignen Heerd hat. Das Ge-
müth iſt das Hausweſen, die Vernunft die Res publica
des Menſchen. Die Vernunft iſt die Wahrheit der Na-
tur
, das Herz die Wahrheit des Menſchen. Populä-
rer: die Vernunft iſt der Gott der Natur, das Herz
der Gott des Menſchen. Alles, was der Menſch
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währt ihm das Herz. Gott, Unſterblichkeit, Freiheit im ſu-

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[382/0400] Begattung. Nur die Weſen verſtehen ſich, die zu einer Gat- tung gehören; der Mittheilungstrieb iſt der geiſtige Geſchlechts- trieb. In der Vernunft ſieht ſich der Menſch im Ganzen ver- ſchwinden; die Vernunft iſt der Anblick des Sternenhimmels, der Anblick des Weltmeers, der Anblick einer unbegränz- ten Ebene, das Gemüth der Anblick des menſchenfreund- lichen Mondes, der Anblick des ſanftmurmelnden Mühlbaches, der Anblick eines abgeſchloſſenen eng begränzten Thales. Das Herz contrahirt, die Vernunft expandirt den Menſchen — Unterſchiede, die alle nur in der Antitheſe Gültigkeit haben, denn auch die Vernunft contrahirt, auch das Herz expandirt, aber in anderer Art. Die Vernunft iſt kalt, weil ſie nicht dem Menſchen ſchmeichelt, nicht ihm allein das Wort redet; das Herz aber iſt der Menſch, der nur allein für ſich Partei nimmt. Das Herz erbarmt ſich wohl auch der Thiere, aber nur, weil auch das Thier ein Herz hat. Das Herz liebt nur, was es mit ſich ſelbſt identificirt. Was Du dieſem Weſen anthuſt, das thuſt Du mir ſelbſt an. Das Herz liebt überall nur ſich ſelbſt, kommt nicht über ſich hinaus; das Herz gibt uns nicht den Begriff eines Andern, eines von Uns Unterſchiedenen. Die Vernunft dagegen erbarmt ſich der Thiere, nicht weil ſie ſich ſelbſt in ihnen findet oder ſie mit dem Menſchen identificirt, ſondern weil ſie dieſelben als vom Menſchen unterſchiedne, nicht nur um des Menſchen willen exiſtirende, ſondern auch als ſelbſtberechtigte Weſen anerkennt. Das Herz opfert die Gattung dem Individuum, die Vernunft das Individuum der Gattung auf. Der Menſch ohne Ge- müth iſt ein Menſch, der keinen eignen Heerd hat. Das Ge- müth iſt das Hausweſen, die Vernunft die Res publica des Menſchen. Die Vernunft iſt die Wahrheit der Na- tur, das Herz die Wahrheit des Menſchen. Populä- rer: die Vernunft iſt der Gott der Natur, das Herz der Gott des Menſchen. Alles, was der Menſch wünſcht, aber die Vernunft, aber die Natur verſagt, ge- währt ihm das Herz. Gott, Unſterblichkeit, Freiheit im ſu-

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Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/400>, abgerufen am 19.04.2024.