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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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und Ferne eingeholt. Einmal aber sträubte sich Do¬
rothee mit einer Heftigkeit, die ihrem sonstigen Wesen
völlig fremd war, und ihren Zustand steigerte, gegen
jede ärztliche Behandlung; dann aber wußte auch
kein Einziger eine zweckmäßig scheinende Methode vor¬
zuschlagen. Sie selbst erklärte sich für gesund und sie
schien es zu sein. Ich mußte mich allerseits mit dem
Vorwurf hypochondrischer Aengstlichkeit abfertigen las¬
sen. Höchstens daß man das Postulat der Kinder¬
losigkeit als die Ursache momentaner körperlicher oder
gemüthlicher Störungen zu Markte brachte. Ich bin
aber zu sehr Arzt, um ein Freund derartiger Po¬
stulate zu sein. Unsere Kunst ist eine der Exemtionen.
Dorothee war zu zart für ein Martyrium, dem meine
Mutter erlag, als sie mir das Leben gab; und lassen
Sie mich hinzufügen, Fräulein Hardine, Dorothee war
zu sehr Kind für die Kinderzucht, bei welcher der Vater
ihr so wenig eine Stütze zu sein vermochte. Sie er¬
kannte das auch wohl selbst. Niemals hat sie eine
mütterliche Sehnsucht angedeutet; ja ich sah sie von
einem Schauder befallen, als wir auf einer unserer
seltenen gemeinsamen Wanderungen durch die Stadt
einer Schaar tobender Waisenknaben begegneten. Als
ich ihr nach 1806 -- nicht zu meiner, nur zu ihrer

und Ferne eingeholt. Einmal aber ſträubte ſich Do¬
rothee mit einer Heftigkeit, die ihrem ſonſtigen Weſen
völlig fremd war, und ihren Zuſtand ſteigerte, gegen
jede ärztliche Behandlung; dann aber wußte auch
kein Einziger eine zweckmäßig ſcheinende Methode vor¬
zuſchlagen. Sie ſelbſt erklärte ſich für geſund und ſie
ſchien es zu ſein. Ich mußte mich allerſeits mit dem
Vorwurf hypochondriſcher Aengſtlichkeit abfertigen laſ¬
ſen. Höchſtens daß man das Poſtulat der Kinder¬
loſigkeit als die Urſache momentaner körperlicher oder
gemüthlicher Störungen zu Markte brachte. Ich bin
aber zu ſehr Arzt, um ein Freund derartiger Po¬
ſtulate zu ſein. Unſere Kunſt iſt eine der Exemtionen.
Dorothee war zu zart für ein Martyrium, dem meine
Mutter erlag, als ſie mir das Leben gab; und laſſen
Sie mich hinzufügen, Fräulein Hardine, Dorothee war
zu ſehr Kind für die Kinderzucht, bei welcher der Vater
ihr ſo wenig eine Stütze zu ſein vermochte. Sie er¬
kannte das auch wohl ſelbſt. Niemals hat ſie eine
mütterliche Sehnſucht angedeutet; ja ich ſah ſie von
einem Schauder befallen, als wir auf einer unſerer
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[199/0203] und Ferne eingeholt. Einmal aber ſträubte ſich Do¬ rothee mit einer Heftigkeit, die ihrem ſonſtigen Weſen völlig fremd war, und ihren Zuſtand ſteigerte, gegen jede ärztliche Behandlung; dann aber wußte auch kein Einziger eine zweckmäßig ſcheinende Methode vor¬ zuſchlagen. Sie ſelbſt erklärte ſich für geſund und ſie ſchien es zu ſein. Ich mußte mich allerſeits mit dem Vorwurf hypochondriſcher Aengſtlichkeit abfertigen laſ¬ ſen. Höchſtens daß man das Poſtulat der Kinder¬ loſigkeit als die Urſache momentaner körperlicher oder gemüthlicher Störungen zu Markte brachte. Ich bin aber zu ſehr Arzt, um ein Freund derartiger Po¬ ſtulate zu ſein. Unſere Kunſt iſt eine der Exemtionen. Dorothee war zu zart für ein Martyrium, dem meine Mutter erlag, als ſie mir das Leben gab; und laſſen Sie mich hinzufügen, Fräulein Hardine, Dorothee war zu ſehr Kind für die Kinderzucht, bei welcher der Vater ihr ſo wenig eine Stütze zu ſein vermochte. Sie er¬ kannte das auch wohl ſelbſt. Niemals hat ſie eine mütterliche Sehnſucht angedeutet; ja ich ſah ſie von einem Schauder befallen, als wir auf einer unſerer ſeltenen gemeinſamen Wanderungen durch die Stadt einer Schaar tobender Waiſenknaben begegneten. Als ich ihr nach 1806 — nicht zu meiner, nur zu ihrer

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/203>, abgerufen am 28.03.2024.