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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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Sohn, eine Mutter suchend, das Land durchwanderte,
und gestern, gestern, da er im Wahn seine Hand nach
einer Andern streckte, -- -- darf man an solche Sym¬
pathien glauben, an eine electrische Strömung des
verwandten Blutes?"

"Dürfte ich sie sehen?" fragte ich nach einer
langen Stille den unglücklichen Mann.

"Sie würde Sie nicht erkennen, schwerlich be¬
merken. Aber Sie, wie sollten Sie diesen Eindruck
ertragen? Fräulein Hardine, -- sie rast!"

"Führen Sie mich zu ihr," sagte ich voranschrei¬
tend. Unter der Thür hielt ich an. "Eine Frage
noch: Ist es eine formlose Beklemmung, oder -- --

"Es ist ein fixirtes Wahnbild," versetzte Faber
flüsternd, "das sinnloseste, -- -- oder sollte dennoch
eine unterdrückte, mütterliche Sehnsucht -- -- sollte
ich zum zweiten Male genarrt -- -- ? Doch genug
der fruchtlosen Grübeleien. Sie quält sich mit der
verzweifelten Idee, eine Kindesmörderin zu sein. Nicht
aber eines eigenen, neugebornen Kindes, wie es ein häufiger
Wahn irrsinniger Frauen ist; nein, über einen Knaben
tobt sie, einen Waisenknaben, den sie, sie selber todt¬
geschossen haben will. Auf Viertelstunden tritt wohl
eine Pause ein; dann formt sie aus Kissen und

Sohn, eine Mutter ſuchend, das Land durchwanderte,
und geſtern, geſtern, da er im Wahn ſeine Hand nach
einer Andern ſtreckte, — — darf man an ſolche Sym¬
pathien glauben, an eine electriſche Strömung des
verwandten Blutes?“

„Dürfte ich ſie ſehen?“ fragte ich nach einer
langen Stille den unglücklichen Mann.

„Sie würde Sie nicht erkennen, ſchwerlich be¬
merken. Aber Sie, wie ſollten Sie dieſen Eindruck
ertragen? Fräulein Hardine, — ſie raſt!“

„Führen Sie mich zu ihr,“ ſagte ich voranſchrei¬
tend. Unter der Thür hielt ich an. „Eine Frage
noch: Iſt es eine formloſe Beklemmung, oder — —

„Es iſt ein fixirtes Wahnbild,“ verſetzte Faber
flüſternd, „das ſinnloſeſte, — — oder ſollte dennoch
eine unterdrückte, mütterliche Sehnſucht — — ſollte
ich zum zweiten Male genarrt — — ? Doch genug
der fruchtloſen Grübeleien. Sie quält ſich mit der
verzweifelten Idee, eine Kindesmörderin zu ſein. Nicht
aber eines eigenen, neugebornen Kindes, wie es ein häufiger
Wahn irrſinniger Frauen iſt; nein, über einen Knaben
tobt ſie, einen Waiſenknaben, den ſie, ſie ſelber todt¬
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[202/0206] Sohn, eine Mutter ſuchend, das Land durchwanderte, und geſtern, geſtern, da er im Wahn ſeine Hand nach einer Andern ſtreckte, — — darf man an ſolche Sym¬ pathien glauben, an eine electriſche Strömung des verwandten Blutes?“ „Dürfte ich ſie ſehen?“ fragte ich nach einer langen Stille den unglücklichen Mann. „Sie würde Sie nicht erkennen, ſchwerlich be¬ merken. Aber Sie, wie ſollten Sie dieſen Eindruck ertragen? Fräulein Hardine, — ſie raſt!“ „Führen Sie mich zu ihr,“ ſagte ich voranſchrei¬ tend. Unter der Thür hielt ich an. „Eine Frage noch: Iſt es eine formloſe Beklemmung, oder — — „Es iſt ein fixirtes Wahnbild,“ verſetzte Faber flüſternd, „das ſinnloſeſte, — — oder ſollte dennoch eine unterdrückte, mütterliche Sehnſucht — — ſollte ich zum zweiten Male genarrt — — ? Doch genug der fruchtloſen Grübeleien. Sie quält ſich mit der verzweifelten Idee, eine Kindesmörderin zu ſein. Nicht aber eines eigenen, neugebornen Kindes, wie es ein häufiger Wahn irrſinniger Frauen iſt; nein, über einen Knaben tobt ſie, einen Waiſenknaben, den ſie, ſie ſelber todt¬ geſchoſſen haben will. Auf Viertelſtunden tritt wohl eine Pauſe ein; dann formt ſie aus Kiſſen und

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/206>, abgerufen am 23.04.2024.