Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite

"Hardine von Reckenburg" trug, die abgerissene Unter¬
schrift eines meiner wenigen Briefe an Dorothee und
von dem, welchem das Blatt bei irgendwelchem Anlaß
zugespielt worden war, vielleicht niemals bemerkt. Aber
war es nicht eine seltsame Fügung, daß Siegmund
Faber es sein mußte, welcher das Andenken von der
Brust des Mannes nahm, der sein Lebensglück ver¬
nichtet hatte, und daß er es, als das Liebeszeichen
einer Anderen, in die Hand seiner treulosen Verlobten
zurücklegte?

Ich aber, wie hätte es in jenen Stunden ohne
Einfluß auf mich bleiben können, daß über dem brechen¬
den Herzen Name und Schriftzüge der Freundin ge¬
ruht, welche er seine Schwester genannt hatte, als er
mit seinem Abschiedsworte das geliebte Weib ihrem
Schutze anvertraute? Wie hätte ich mich in jenen
Stunden anklagen mögen, weil das Vermächtniß des
todten Freundes stärker in mir sprach als die Pflicht
gegen den lebenden?

Ich ging in meine Kammer und warf mich un¬
entkleidet auf das Bett. Dorothee schlief; ich fand
keine Ruh'! Die Ereignisse dieser Sonnenwende ver¬
schlangen sich wie greifbare Erscheinungen vor dem
halbbetäubten Sinn. von jenem Festtage an, wo ich

2*

„Hardine von Reckenburg“ trug, die abgeriſſene Unter¬
ſchrift eines meiner wenigen Briefe an Dorothee und
von dem, welchem das Blatt bei irgendwelchem Anlaß
zugeſpielt worden war, vielleicht niemals bemerkt. Aber
war es nicht eine ſeltſame Fügung, daß Siegmund
Faber es ſein mußte, welcher das Andenken von der
Bruſt des Mannes nahm, der ſein Lebensglück ver¬
nichtet hatte, und daß er es, als das Liebeszeichen
einer Anderen, in die Hand ſeiner treuloſen Verlobten
zurücklegte?

Ich aber, wie hätte es in jenen Stunden ohne
Einfluß auf mich bleiben können, daß über dem brechen¬
den Herzen Name und Schriftzüge der Freundin ge¬
ruht, welche er ſeine Schwester genannt hatte, als er
mit ſeinem Abſchiedsworte das geliebte Weib ihrem
Schutze anvertraute? Wie hätte ich mich in jenen
Stunden anklagen mögen, weil das Vermächtniß des
todten Freundes ſtärker in mir ſprach als die Pflicht
gegen den lebenden?

Ich ging in meine Kammer und warf mich un¬
entkleidet auf das Bett. Dorothee ſchlief; ich fand
keine Ruh'! Die Ereigniſſe dieſer Sonnenwende ver¬
ſchlangen ſich wie greifbare Erſcheinungen vor dem
halbbetäubten Sinn. von jenem Feſttage an, wo ich

2*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0023" n="19"/>
&#x201E;Hardine von Reckenburg&#x201C; trug, die abgeri&#x017F;&#x017F;ene Unter¬<lb/>
&#x017F;chrift eines meiner wenigen Briefe an Dorothee und<lb/>
von dem, welchem das Blatt bei irgendwelchem Anlaß<lb/>
zuge&#x017F;pielt worden war, vielleicht niemals bemerkt. Aber<lb/>
war es nicht eine &#x017F;elt&#x017F;ame Fügung, daß Siegmund<lb/>
Faber es &#x017F;ein mußte, welcher das Andenken von der<lb/>
Bru&#x017F;t des Mannes nahm, der &#x017F;ein Lebensglück ver¬<lb/>
nichtet hatte, und daß er es, als das Liebeszeichen<lb/>
einer Anderen, in die Hand &#x017F;einer treulo&#x017F;en Verlobten<lb/>
zurücklegte?</p><lb/>
        <p>Ich aber, wie hätte es in jenen Stunden ohne<lb/>
Einfluß auf mich bleiben können, daß über dem brechen¬<lb/>
den Herzen Name und Schriftzüge der Freundin ge¬<lb/>
ruht, welche er <hi rendition="#g">&#x017F;eine</hi> Schwester genannt hatte, als er<lb/>
mit &#x017F;einem Ab&#x017F;chiedsworte das geliebte Weib ihrem<lb/>
Schutze anvertraute? Wie hätte ich mich in jenen<lb/>
Stunden anklagen mögen, weil das Vermächtniß des<lb/>
todten Freundes &#x017F;tärker in mir &#x017F;prach als die Pflicht<lb/>
gegen den lebenden?</p><lb/>
        <p>Ich ging in meine Kammer und warf mich un¬<lb/>
entkleidet auf das Bett. Dorothee &#x017F;chlief; ich fand<lb/>
keine Ruh'! Die Ereigni&#x017F;&#x017F;e die&#x017F;er Sonnenwende ver¬<lb/>
&#x017F;chlangen &#x017F;ich wie greifbare Er&#x017F;cheinungen vor dem<lb/>
halbbetäubten Sinn. von jenem Fe&#x017F;ttage an, wo ich<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">2*<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[19/0023] „Hardine von Reckenburg“ trug, die abgeriſſene Unter¬ ſchrift eines meiner wenigen Briefe an Dorothee und von dem, welchem das Blatt bei irgendwelchem Anlaß zugeſpielt worden war, vielleicht niemals bemerkt. Aber war es nicht eine ſeltſame Fügung, daß Siegmund Faber es ſein mußte, welcher das Andenken von der Bruſt des Mannes nahm, der ſein Lebensglück ver¬ nichtet hatte, und daß er es, als das Liebeszeichen einer Anderen, in die Hand ſeiner treuloſen Verlobten zurücklegte? Ich aber, wie hätte es in jenen Stunden ohne Einfluß auf mich bleiben können, daß über dem brechen¬ den Herzen Name und Schriftzüge der Freundin ge¬ ruht, welche er ſeine Schwester genannt hatte, als er mit ſeinem Abſchiedsworte das geliebte Weib ihrem Schutze anvertraute? Wie hätte ich mich in jenen Stunden anklagen mögen, weil das Vermächtniß des todten Freundes ſtärker in mir ſprach als die Pflicht gegen den lebenden? Ich ging in meine Kammer und warf mich un¬ entkleidet auf das Bett. Dorothee ſchlief; ich fand keine Ruh'! Die Ereigniſſe dieſer Sonnenwende ver¬ ſchlangen ſich wie greifbare Erſcheinungen vor dem halbbetäubten Sinn. von jenem Feſttage an, wo ich 2*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/23
Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/23>, abgerufen am 19.04.2024.