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François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871.

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hin schweren Kampfe des Lebens." Das ist das ein¬
zige Mal, daß sie das Andenken August Müllers in
mir wach gerufen hat."

Ludwig sprach eine lange Weile über jene erste
traurige Zeit. Das Gedächtniß des lebhaften, neu¬
gierigen Schülers hatte manches erfaßt und erfahren,
was dem blöden, kleinen Mädchen entgangen oder
entfallen war. Er scheute sich nicht, sie an ihres Va¬
ters verwahrlosten Zustand und selber an ihren eigenen
zu erinnern, wie sie ein zitterndes, halbnacktes Vögel¬
chen, fast stumpfsinnig von Entbehrung und Elend,
der Frau unter die Augen getreten sei, die ihren Ab¬
scheu vor jeder Art von Verkommenheit bisher noch
zu keines Menschen Gunsten verleugnet habe.

"Ich kann uns diesen Rückblick nicht ersparen,
mein liebes Herz," sagte er, "auf daß wir die Frau
verstehen lernen und ihre That. Frage Dich nun
selber, ob solch eine Erscheinung, mit dem unerhör¬
testen Anspruche sich zudrängend und sich des schmäh¬
lichsten Unglimpfes nicht entblödend, ob sie die bishe¬
rige Natur, die bisherigen Grundsätze unserer Freundin
erschüttern, oder ob sie dieselben schärfen mußte?"

Weiterhin sprach er von den Folgen jener Be¬
gegnung. Erst in dieser Stunde erfuhr Hardine, mit

hin ſchweren Kampfe des Lebens.“ Das iſt das ein¬
zige Mal, daß ſie das Andenken Auguſt Müllers in
mir wach gerufen hat.“

Ludwig ſprach eine lange Weile über jene erſte
traurige Zeit. Das Gedächtniß des lebhaften, neu¬
gierigen Schülers hatte manches erfaßt und erfahren,
was dem blöden, kleinen Mädchen entgangen oder
entfallen war. Er ſcheute ſich nicht, ſie an ihres Va¬
ters verwahrloſten Zuſtand und ſelber an ihren eigenen
zu erinnern, wie ſie ein zitterndes, halbnacktes Vögel¬
chen, faſt ſtumpfſinnig von Entbehrung und Elend,
der Frau unter die Augen getreten ſei, die ihren Ab¬
ſcheu vor jeder Art von Verkommenheit bisher noch
zu keines Menſchen Gunſten verleugnet habe.

„Ich kann uns dieſen Rückblick nicht erſparen,
mein liebes Herz,“ ſagte er, „auf daß wir die Frau
verſtehen lernen und ihre That. Frage Dich nun
ſelber, ob ſolch eine Erſcheinung, mit dem unerhör¬
teſten Anſpruche ſich zudrängend und ſich des ſchmäh¬
lichſten Unglimpfes nicht entblödend, ob ſie die bishe¬
rige Natur, die bisherigen Grundſätze unſerer Freundin
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[236/0240] hin ſchweren Kampfe des Lebens.“ Das iſt das ein¬ zige Mal, daß ſie das Andenken Auguſt Müllers in mir wach gerufen hat.“ Ludwig ſprach eine lange Weile über jene erſte traurige Zeit. Das Gedächtniß des lebhaften, neu¬ gierigen Schülers hatte manches erfaßt und erfahren, was dem blöden, kleinen Mädchen entgangen oder entfallen war. Er ſcheute ſich nicht, ſie an ihres Va¬ ters verwahrloſten Zuſtand und ſelber an ihren eigenen zu erinnern, wie ſie ein zitterndes, halbnacktes Vögel¬ chen, faſt ſtumpfſinnig von Entbehrung und Elend, der Frau unter die Augen getreten ſei, die ihren Ab¬ ſcheu vor jeder Art von Verkommenheit bisher noch zu keines Menſchen Gunſten verleugnet habe. „Ich kann uns dieſen Rückblick nicht erſparen, mein liebes Herz,“ ſagte er, „auf daß wir die Frau verſtehen lernen und ihre That. Frage Dich nun ſelber, ob ſolch eine Erſcheinung, mit dem unerhör¬ teſten Anſpruche ſich zudrängend und ſich des ſchmäh¬ lichſten Unglimpfes nicht entblödend, ob ſie die bishe¬ rige Natur, die bisherigen Grundſätze unſerer Freundin erſchüttern, oder ob ſie dieſelben ſchärfen mußte?“ Weiterhin ſprach er von den Folgen jener Be¬ gegnung. Erſt in dieſer Stunde erfuhr Hardine, mit

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Zitationshilfe: François, Louise von: Die letzte Reckenburgerin. Bd. 2. Berlin, 1871, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/francois_reckenburgerin02_1871/240>, abgerufen am 16.04.2024.