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Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895.

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III. Theoretisches.
(J. Breuer.)

In der "Vorläufigen Mitteilung", welche diese Studien einleitet, haben wir die Anschauungen dargelegt, zu denen wir durch unsere Beobachtungen geführt wurden; und ich glaube in der Hauptsache an ihnen festhalten zu dürfen. Die "Vorläufige Mittheilung" ist aber so kurz und so knapp, dass darin grossentheils nur angedeutet werden konnte, was wir meinen. Es sei darum gestattet, nun, da die Krankengeschichten Belege für unsere Anschauungen erbracht haben, diese ausführlicher darzulegen. Natürlich soll und kann auch hier nicht "das Ganze der Hysterie" abgehandelt werden; aber es sollen diejenigen Punkte, welche in der "Vorläufigen Mittheilung" ungenügend begründet und zu schwach hervorgehoben wurden, eine etwas eingehendere, deutlichere, wohl auch einschränkende Besprechung erfahren.

In diesen Erörterungen wird wenig vom Gehirn und gar nicht von den Molecülen die Rede sein. Psychische Vorgänge sollen in der Sprache der Psychologie behandelt werden, ja es kann eigentlich gar nicht anders geschehen. Wenn wir statt "Vorstellung" "Rindenerregung" sagen wollten, so würde der letztere Ausdruck nur dadurch einen Sinn für uns haben, dass wir in der Verkleidung den guten Bekannten erkennen und die "Vorstellung" stillschweigend wieder restituiren. Denn während Vorstellungen fortwährend Gegenstände unserer Erfahrung und uns in all' ihren Nuancen wohlbekannt sind, ist "Rindenerregung" für uns mehr ein Postulat, ein Gegenstand künftiger, erhoffter Erkenntniss. Jener Ersatz der Termini scheint eine zwecklose Maskerade.

So möge der fast ausschliessliche Gebrauch psychologischer Terminologie vergeben werden.

Noch für Anderes muss ich im vorhinein um Nachsicht bitten. Wenn eine Wissenschaft rasch vorwärts schreitet, werden Gedanken, die zuerst von Einzelnen ausgesprochen wurden, alsbald Gemeingut. So kann Niemand, der heute seine Anschauungen über Hysterie und ihre psychische Grundlage darzulegen versucht, es vermeiden, dass er eine Menge Gedanken Anderer ausspreche und wiederhole, die eben aus dem Individualbesitz in den Gemeinbesitz übergehen. Es ist

III. Theoretisches.
(J. Breuer.)

In der „Vorläufigen Mitteilung“, welche diese Studien einleitet, haben wir die Anschauungen dargelegt, zu denen wir durch unsere Beobachtungen geführt wurden; und ich glaube in der Hauptsache an ihnen festhalten zu dürfen. Die „Vorläufige Mittheilung“ ist aber so kurz und so knapp, dass darin grossentheils nur angedeutet werden konnte, was wir meinen. Es sei darum gestattet, nun, da die Krankengeschichten Belege für unsere Anschauungen erbracht haben, diese ausführlicher darzulegen. Natürlich soll und kann auch hier nicht „das Ganze der Hysterie“ abgehandelt werden; aber es sollen diejenigen Punkte, welche in der „Vorläufigen Mittheilung“ ungenügend begründet und zu schwach hervorgehoben wurden, eine etwas eingehendere, deutlichere, wohl auch einschränkende Besprechung erfahren.

In diesen Erörterungen wird wenig vom Gehirn und gar nicht von den Molecülen die Rede sein. Psychische Vorgänge sollen in der Sprache der Psychologie behandelt werden, ja es kann eigentlich gar nicht anders geschehen. Wenn wir statt „Vorstellung“ „Rindenerregung“ sagen wollten, so würde der letztere Ausdruck nur dadurch einen Sinn für uns haben, dass wir in der Verkleidung den guten Bekannten erkennen und die „Vorstellung“ stillschweigend wieder restituiren. Denn während Vorstellungen fortwährend Gegenstände unserer Erfahrung und uns in all' ihren Nuancen wohlbekannt sind, ist „Rindenerregung“ für uns mehr ein Postulat, ein Gegenstand künftiger, erhoffter Erkenntniss. Jener Ersatz der Termini scheint eine zwecklose Maskerade.

So möge der fast ausschliessliche Gebrauch psychologischer Terminologie vergeben werden.

Noch für Anderes muss ich im vorhinein um Nachsicht bitten. Wenn eine Wissenschaft rasch vorwärts schreitet, werden Gedanken, die zuerst von Einzelnen ausgesprochen wurden, alsbald Gemeingut. So kann Niemand, der heute seine Anschauungen über Hysterie und ihre psychische Grundlage darzulegen versucht, es vermeiden, dass er eine Menge Gedanken Anderer ausspreche und wiederhole, die eben aus dem Individualbesitz in den Gemeinbesitz übergehen. Es ist

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[161/0167] III. Theoretisches. (J. Breuer.) In der „Vorläufigen Mitteilung“, welche diese Studien einleitet, haben wir die Anschauungen dargelegt, zu denen wir durch unsere Beobachtungen geführt wurden; und ich glaube in der Hauptsache an ihnen festhalten zu dürfen. Die „Vorläufige Mittheilung“ ist aber so kurz und so knapp, dass darin grossentheils nur angedeutet werden konnte, was wir meinen. Es sei darum gestattet, nun, da die Krankengeschichten Belege für unsere Anschauungen erbracht haben, diese ausführlicher darzulegen. Natürlich soll und kann auch hier nicht „das Ganze der Hysterie“ abgehandelt werden; aber es sollen diejenigen Punkte, welche in der „Vorläufigen Mittheilung“ ungenügend begründet und zu schwach hervorgehoben wurden, eine etwas eingehendere, deutlichere, wohl auch einschränkende Besprechung erfahren. In diesen Erörterungen wird wenig vom Gehirn und gar nicht von den Molecülen die Rede sein. Psychische Vorgänge sollen in der Sprache der Psychologie behandelt werden, ja es kann eigentlich gar nicht anders geschehen. Wenn wir statt „Vorstellung“ „Rindenerregung“ sagen wollten, so würde der letztere Ausdruck nur dadurch einen Sinn für uns haben, dass wir in der Verkleidung den guten Bekannten erkennen und die „Vorstellung“ stillschweigend wieder restituiren. Denn während Vorstellungen fortwährend Gegenstände unserer Erfahrung und uns in all' ihren Nuancen wohlbekannt sind, ist „Rindenerregung“ für uns mehr ein Postulat, ein Gegenstand künftiger, erhoffter Erkenntniss. Jener Ersatz der Termini scheint eine zwecklose Maskerade. So möge der fast ausschliessliche Gebrauch psychologischer Terminologie vergeben werden. Noch für Anderes muss ich im vorhinein um Nachsicht bitten. Wenn eine Wissenschaft rasch vorwärts schreitet, werden Gedanken, die zuerst von Einzelnen ausgesprochen wurden, alsbald Gemeingut. So kann Niemand, der heute seine Anschauungen über Hysterie und ihre psychische Grundlage darzulegen versucht, es vermeiden, dass er eine Menge Gedanken Anderer ausspreche und wiederhole, die eben aus dem Individualbesitz in den Gemeinbesitz übergehen. Es ist

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Zitationshilfe: Breuer, Josef und Freud, Sigmund: Studien über Hysterie. Leipzig u. a., 1895, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/freud_hysterie_1895/167>, abgerufen am 28.03.2024.