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Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790.

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1. Buch. 1. Tit.
der Eheleuthe, der Aeltern gegen die Kinder, und
der Herrschaft gegen das Gesinde immer mit Rück-
sicht auf die besondern Eigenschaften, Umstände und
Bedürfnisse der Persohnen bestimmt werden. Wenn
daher der Knecht über seinen Herrn Klage führte,
daß dieser ihm allzuschwere Arbeit auflege; so müßte
der Richter sowohl die Bedürfnisse des Herrn, als
die persöhnlichen Eigenschaften des Knechts erwägen,
und hiernach sein Urtheil sprechen. Weiter bestehet
auch die Erklärung nach der Billigkeit darinn
4) daß in zweifelhaften Fällen, wo es weder
der ausdehnenden noch der einschränkenden Erklärung
an Gründen fehlt, jedoch keine derselben etwas über-
wiegendes
für sich hat, der Richter mehr geneigt
seyn müsse, die gelindere Meynung vorzuziehen,
d. i. diejenige Erklärung anzunehmen, die am meisten
mit dem Naturrechte übereinkommt, oder wenigstens
von der Strenge am meisten entfernt ist 65); Mithin
5) in Civil-Fällen diejenige Art der Auslegung vor-
dringen lasse, nach welcher die Handlung, über deren
Gültigkeit gestritten wird, eher bey Kräften erhalten,
als zernichtet wird 66); hingegen

6)
65) nettelbladt System. elem. Iurispr. posit.
Germanor. commun. general
. §. 230. sagt:
Dicitur benigna interpretatio, per quam is sensus
pro vero adsumitur, qui legibus naturalibus magis conve-
nit, quam alter, vel saltim a rigore magis alienus est;
eaque locum habet, si adest ambiguitas, id est
, plures
interpretationes aeque probabiles sunt
. Hinc
in L. 9. D. de Reg. Iur. dicitur:
semper in obscuris;
quod minimum est, sequimur, et in L. 3. D. de his,
quae in testam. del. haec regula obvenit:
in re dubia be-
nigniorem interpretationem sequi, non minus iustum
est, quam tutius
.
66) L. 12. und 21. D. de rebus dubiis.
1. Buch. 1. Tit.
der Eheleuthe, der Aeltern gegen die Kinder, und
der Herrſchaft gegen das Geſinde immer mit Ruͤck-
ſicht auf die beſondern Eigenſchaften, Umſtaͤnde und
Beduͤrfniſſe der Perſohnen beſtimmt werden. Wenn
daher der Knecht uͤber ſeinen Herrn Klage fuͤhrte,
daß dieſer ihm allzuſchwere Arbeit auflege; ſo muͤßte
der Richter ſowohl die Beduͤrfniſſe des Herrn, als
die perſoͤhnlichen Eigenſchaften des Knechts erwaͤgen,
und hiernach ſein Urtheil ſprechen. Weiter beſtehet
auch die Erklaͤrung nach der Billigkeit darinn
4) daß in zweifelhaften Faͤllen, wo es weder
der ausdehnenden noch der einſchraͤnkenden Erklaͤrung
an Gruͤnden fehlt, jedoch keine derſelben etwas uͤber-
wiegendes
fuͤr ſich hat, der Richter mehr geneigt
ſeyn muͤſſe, die gelindere Meynung vorzuziehen,
d. i. diejenige Erklaͤrung anzunehmen, die am meiſten
mit dem Naturrechte uͤbereinkommt, oder wenigſtens
von der Strenge am meiſten entfernt iſt 65); Mithin
5) in Civil-Faͤllen diejenige Art der Auslegung vor-
dringen laſſe, nach welcher die Handlung, uͤber deren
Guͤltigkeit geſtritten wird, eher bey Kraͤften erhalten,
als zernichtet wird 66); hingegen

6)
65) nettelbladt Syſtem. elem. Iurispr. poſit.
Germanor. commun. general
. §. 230. ſagt:
Dicitur benigna interpretatio, per quam is ſenſus
pro vero adſumitur, qui legibus naturalibus magis conve-
nit, quam alter, vel ſaltim a rigore magis alienus eſt;
eaque locum habet, ſi adeſt ambiguitas, id eſt
, plures
interpretationes aeque probabiles sunt
. Hinc
in L. 9. D. de Reg. Iur. dicitur:
ſemper in obſcuris;
quod minimum eſt, ſequimur, et in L. 3. D. de his,
quae in teſtam. del. haec regula obvenit:
in re dubia be-
nigniorem interpretationem ſequi, non minus iuſtum
eſt, quam tutius
.
66) L. 12. und 21. D. de rebus dubiis.
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[212/0232] 1. Buch. 1. Tit. der Eheleuthe, der Aeltern gegen die Kinder, und der Herrſchaft gegen das Geſinde immer mit Ruͤck- ſicht auf die beſondern Eigenſchaften, Umſtaͤnde und Beduͤrfniſſe der Perſohnen beſtimmt werden. Wenn daher der Knecht uͤber ſeinen Herrn Klage fuͤhrte, daß dieſer ihm allzuſchwere Arbeit auflege; ſo muͤßte der Richter ſowohl die Beduͤrfniſſe des Herrn, als die perſoͤhnlichen Eigenſchaften des Knechts erwaͤgen, und hiernach ſein Urtheil ſprechen. Weiter beſtehet auch die Erklaͤrung nach der Billigkeit darinn 4) daß in zweifelhaften Faͤllen, wo es weder der ausdehnenden noch der einſchraͤnkenden Erklaͤrung an Gruͤnden fehlt, jedoch keine derſelben etwas uͤber- wiegendes fuͤr ſich hat, der Richter mehr geneigt ſeyn muͤſſe, die gelindere Meynung vorzuziehen, d. i. diejenige Erklaͤrung anzunehmen, die am meiſten mit dem Naturrechte uͤbereinkommt, oder wenigſtens von der Strenge am meiſten entfernt iſt 65); Mithin 5) in Civil-Faͤllen diejenige Art der Auslegung vor- dringen laſſe, nach welcher die Handlung, uͤber deren Guͤltigkeit geſtritten wird, eher bey Kraͤften erhalten, als zernichtet wird 66); hingegen 6) 65) nettelbladt Syſtem. elem. Iurispr. poſit. Germanor. commun. general. §. 230. ſagt: Dicitur benigna interpretatio, per quam is ſenſus pro vero adſumitur, qui legibus naturalibus magis conve- nit, quam alter, vel ſaltim a rigore magis alienus eſt; eaque locum habet, ſi adeſt ambiguitas, id eſt, plures interpretationes aeque probabiles sunt. Hinc in L. 9. D. de Reg. Iur. dicitur: ſemper in obſcuris; quod minimum eſt, ſequimur, et in L. 3. D. de his, quae in teſtam. del. haec regula obvenit: in re dubia be- nigniorem interpretationem ſequi, non minus iuſtum eſt, quam tutius. 66) L. 12. und 21. D. de rebus dubiis.

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Zitationshilfe: Glück, Christian Friedrich von: Versuch einer ausführlichen Erläuterung der Pandecten nach Hellfeld ein Commentar für meine Zuhörer. Erlangen, 1790, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/glueck_pandecten01_1790/232>, abgerufen am 28.03.2024.