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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Freylich müßte man mit reinem frischen Ohre hin-
lauschen, und jedem Vorurtheil selbstsüchtiger Partey-
lichkeit, mehr vielleicht als dem Menschen möglich ist,
entsagen.


Es gibt zwey Momente der Weltgeschichte, die
bald auf einander folgen, bald gleichzeitig, theils ein-
zeln und abgesondert, theils höchst verschränkt, sich an
Individuen und Völkern zeigen.

Der erste ist derjenige, in welchem sich die Einzel-
nen neben einander frey ausbilden; dieß ist die Epoche
des Werdens, des Friedens, des Nährens, der Kün-
ste, der Wissenschaften, der Gemüthlichkeit, der Ver-
nunft. Hier wirkt alles nach innen, und strebt in
den besten Zeiten zu einem glücklichen, häuslichen Auf-
erbauen; doch lös't sich dieser Zustand zuletzt in Par-
teysucht und Anarchie auf.

Die zweyte Epoche ist die des Benutzens, des
Kriegens, des Verzehrens, der Technik, des Wissens,
des Verstandes. Die Wirkungen sind nach außen ge-
richtet; im schönsten und höchsten Sinne gewährt die-
ser Zeitpunct Dauer und Genuß unter gewissen Be-
dingungen. Leicht artet jedoch ein solcher Zustand in
Selbstsucht und Tyranney aus, wo man sich aber kei-
nesweges den Tyrannen als eine einzelne Person zu
denken nöthig hat; es gibt eine Tyranney ganzer Mas-
sen, die höchst gewaltsam und unwiderstehlich ist.


Freylich muͤßte man mit reinem friſchen Ohre hin-
lauſchen, und jedem Vorurtheil ſelbſtſuͤchtiger Partey-
lichkeit, mehr vielleicht als dem Menſchen moͤglich iſt,
entſagen.


Es gibt zwey Momente der Weltgeſchichte, die
bald auf einander folgen, bald gleichzeitig, theils ein-
zeln und abgeſondert, theils hoͤchſt verſchraͤnkt, ſich an
Individuen und Voͤlkern zeigen.

Der erſte iſt derjenige, in welchem ſich die Einzel-
nen neben einander frey ausbilden; dieß iſt die Epoche
des Werdens, des Friedens, des Naͤhrens, der Kuͤn-
ſte, der Wiſſenſchaften, der Gemuͤthlichkeit, der Ver-
nunft. Hier wirkt alles nach innen, und ſtrebt in
den beſten Zeiten zu einem gluͤcklichen, haͤuslichen Auf-
erbauen; doch loͤſ’t ſich dieſer Zuſtand zuletzt in Par-
teyſucht und Anarchie auf.

Die zweyte Epoche iſt die des Benutzens, des
Kriegens, des Verzehrens, der Technik, des Wiſſens,
des Verſtandes. Die Wirkungen ſind nach außen ge-
richtet; im ſchoͤnſten und hoͤchſten Sinne gewaͤhrt die-
ſer Zeitpunct Dauer und Genuß unter gewiſſen Be-
dingungen. Leicht artet jedoch ein ſolcher Zuſtand in
Selbſtſucht und Tyranney aus, wo man ſich aber kei-
nesweges den Tyrannen als eine einzelne Perſon zu
denken noͤthig hat; es gibt eine Tyranney ganzer Maſ-
ſen, die hoͤchſt gewaltſam und unwiderſtehlich iſt.


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[132/0166] Freylich muͤßte man mit reinem friſchen Ohre hin- lauſchen, und jedem Vorurtheil ſelbſtſuͤchtiger Partey- lichkeit, mehr vielleicht als dem Menſchen moͤglich iſt, entſagen. Es gibt zwey Momente der Weltgeſchichte, die bald auf einander folgen, bald gleichzeitig, theils ein- zeln und abgeſondert, theils hoͤchſt verſchraͤnkt, ſich an Individuen und Voͤlkern zeigen. Der erſte iſt derjenige, in welchem ſich die Einzel- nen neben einander frey ausbilden; dieß iſt die Epoche des Werdens, des Friedens, des Naͤhrens, der Kuͤn- ſte, der Wiſſenſchaften, der Gemuͤthlichkeit, der Ver- nunft. Hier wirkt alles nach innen, und ſtrebt in den beſten Zeiten zu einem gluͤcklichen, haͤuslichen Auf- erbauen; doch loͤſ’t ſich dieſer Zuſtand zuletzt in Par- teyſucht und Anarchie auf. Die zweyte Epoche iſt die des Benutzens, des Kriegens, des Verzehrens, der Technik, des Wiſſens, des Verſtandes. Die Wirkungen ſind nach außen ge- richtet; im ſchoͤnſten und hoͤchſten Sinne gewaͤhrt die- ſer Zeitpunct Dauer und Genuß unter gewiſſen Be- dingungen. Leicht artet jedoch ein ſolcher Zuſtand in Selbſtſucht und Tyranney aus, wo man ſich aber kei- nesweges den Tyrannen als eine einzelne Perſon zu denken noͤthig hat; es gibt eine Tyranney ganzer Maſ- ſen, die hoͤchſt gewaltſam und unwiderſtehlich iſt.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 132. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/166>, abgerufen am 28.03.2024.