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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795.

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Der Alte trocknete seine Thränen, und
fragte mit einem freundlichen Lächeln: wie
kommen Sie hierher? Ich wollte Ihnen die¬
sen Abend wieder aufwarten.

Wir sind hier ruhiger, versetzte Wilhelm,
singe mir, was du willst, was zu deiner Lage
paßt, und thue nur, als ob ich gar nicht hier
wäre. Es scheint mir, als ob du heute nicht
irren könntest, ich finde dich sehr glücklich,
daß du dich in der Einsamkeit so angenehm
beschäftigen und unterhalten kannst, und da
du überall ein Fremdling bist, in deinem
Herzen die angenehme Bekanntschaft findest.

Der Alte blickte auf seine Saiten, und
nachdem er sanft präludirt, stimmte er an
und sang:

Wer sich der Einsamkeit ergiebt
Ach! der ist bald allein,
Ein jeder lebt, ein jeder liebt,
Und läßt ihn seiner Pein.

Der Alte trocknete ſeine Thränen, und
fragte mit einem freundlichen Lächeln: wie
kommen Sie hierher? Ich wollte Ihnen die¬
ſen Abend wieder aufwarten.

Wir ſind hier ruhiger, verſetzte Wilhelm,
ſinge mir, was du willſt, was zu deiner Lage
paßt, und thue nur, als ob ich gar nicht hier
wäre. Es ſcheint mir, als ob du heute nicht
irren könnteſt, ich finde dich ſehr glücklich,
daß du dich in der Einſamkeit ſo angenehm
beſchäftigen und unterhalten kannſt, und da
du überall ein Fremdling biſt, in deinem
Herzen die angenehme Bekanntſchaft findeſt.

Der Alte blickte auf ſeine Saiten, und
nachdem er ſanft präludirt, ſtimmte er an
und ſang:

Wer ſich der Einſamkeit ergiebt
Ach! der iſt bald allein,
Ein jeder lebt, ein jeder liebt,
Und läßt ihn ſeiner Pein.
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[348/0356] Der Alte trocknete ſeine Thränen, und fragte mit einem freundlichen Lächeln: wie kommen Sie hierher? Ich wollte Ihnen die¬ ſen Abend wieder aufwarten. Wir ſind hier ruhiger, verſetzte Wilhelm, ſinge mir, was du willſt, was zu deiner Lage paßt, und thue nur, als ob ich gar nicht hier wäre. Es ſcheint mir, als ob du heute nicht irren könnteſt, ich finde dich ſehr glücklich, daß du dich in der Einſamkeit ſo angenehm beſchäftigen und unterhalten kannſt, und da du überall ein Fremdling biſt, in deinem Herzen die angenehme Bekanntſchaft findeſt. Der Alte blickte auf ſeine Saiten, und nachdem er ſanft präludirt, ſtimmte er an und ſang: Wer ſich der Einſamkeit ergiebt Ach! der iſt bald allein, Ein jeder lebt, ein jeder liebt, Und läßt ihn ſeiner Pein.

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 1. Berlin, 1795, S. 348. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre01_1795/356>, abgerufen am 29.03.2024.