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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795.

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oder wie soll ich es ausdrücken; der Affekt,
der im tiefsten Grunde des Herzens ruhte,
war auf einmal losgebrochen, wie eine Flam¬
me die Luft bekömmt. Und wenn Lust und
Freude sehr geschickt sind, die Liebe zuerst zu
erzeugen und im Stillen zu nähren; so wird
sie, die von Natur herzhaft ist, durch den
Schrecken am leichtesten angetrieben, sich zu
entscheiden und zu erklären. Man gab dem
Töchterchen Arzney ein und legte es zu Bet¬
te. Mit dem frühsten Morgen eilte mein
Vater zu dem verwundeten Freund, der an
einem starken Wundfieber recht krank dar¬
nieder lag.

Mein Vater sagte mir wenig von dem,
was er mit ihm geredet hatte, und suchte
mich wegen der Folgen, die dieser Vorfall
haben könnte, zu beruhigen. Es war die
Rede, ob man sich mit einer Abbitte begnü¬
gen könne, ob die Sache gerichtlich werden

oder wie ſoll ich es ausdrücken; der Affekt,
der im tiefſten Grunde des Herzens ruhte,
war auf einmal losgebrochen, wie eine Flam¬
me die Luft bekömmt. Und wenn Luſt und
Freude ſehr geſchickt ſind, die Liebe zuerſt zu
erzeugen und im Stillen zu nähren; ſo wird
ſie, die von Natur herzhaft iſt, durch den
Schrecken am leichteſten angetrieben, ſich zu
entſcheiden und zu erklären. Man gab dem
Töchterchen Arzney ein und legte es zu Bet¬
te. Mit dem frühſten Morgen eilte mein
Vater zu dem verwundeten Freund, der an
einem ſtarken Wundfieber recht krank dar¬
nieder lag.

Mein Vater ſagte mir wenig von dem,
was er mit ihm geredet hatte, und ſuchte
mich wegen der Folgen, die dieſer Vorfall
haben könnte, zu beruhigen. Es war die
Rede, ob man ſich mit einer Abbitte begnü¬
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[236/0242] oder wie ſoll ich es ausdrücken; der Affekt, der im tiefſten Grunde des Herzens ruhte, war auf einmal losgebrochen, wie eine Flam¬ me die Luft bekömmt. Und wenn Luſt und Freude ſehr geſchickt ſind, die Liebe zuerſt zu erzeugen und im Stillen zu nähren; ſo wird ſie, die von Natur herzhaft iſt, durch den Schrecken am leichteſten angetrieben, ſich zu entſcheiden und zu erklären. Man gab dem Töchterchen Arzney ein und legte es zu Bet¬ te. Mit dem frühſten Morgen eilte mein Vater zu dem verwundeten Freund, der an einem ſtarken Wundfieber recht krank dar¬ nieder lag. Mein Vater ſagte mir wenig von dem, was er mit ihm geredet hatte, und ſuchte mich wegen der Folgen, die dieſer Vorfall haben könnte, zu beruhigen. Es war die Rede, ob man ſich mit einer Abbitte begnü¬ gen könne, ob die Sache gerichtlich werden

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/242>, abgerufen am 19.04.2024.