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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809.

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Aus
Ottiliens Tagebuche.

"Einen guten Gedanken den wir gelesen,
etwas Auffallendes das wir gehört, tragen
wir wohl in unser Tagebuch. Nähmen wir
uns aber zugleich die Mühe, aus den Briefen
unserer Freunde eigenthümliche Bemerkungen,
originelle Ansichten, flüchtige geistreiche Worte
auszuzeichnen, so würden wir sehr reich wer¬
den. Briefe hebt man auf, um sie nie wie¬
der zu lesen; man zerstört sie zuletzt einmal
aus Discretion, und so verschwindet der
schönste unmittelbarste Lebenshauch unwieder¬
bringlich für uns und andre. Ich nehme
mir vor, dieses Versäumniß wieder gut zu
machen."

Aus
Ottiliens Tagebuche.

„Einen guten Gedanken den wir geleſen,
etwas Auffallendes das wir gehoͤrt, tragen
wir wohl in unſer Tagebuch. Naͤhmen wir
uns aber zugleich die Muͤhe, aus den Briefen
unſerer Freunde eigenthuͤmliche Bemerkungen,
originelle Anſichten, fluͤchtige geiſtreiche Worte
auszuzeichnen, ſo wuͤrden wir ſehr reich wer¬
den. Briefe hebt man auf, um ſie nie wie¬
der zu leſen; man zerſtoͤrt ſie zuletzt einmal
aus Discretion, und ſo verſchwindet der
ſchoͤnſte unmittelbarſte Lebenshauch unwieder¬
bringlich fuͤr uns und andre. Ich nehme
mir vor, dieſes Verſaͤumniß wieder gut zu
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[175/0178] Aus Ottiliens Tagebuche. „Einen guten Gedanken den wir geleſen, etwas Auffallendes das wir gehoͤrt, tragen wir wohl in unſer Tagebuch. Naͤhmen wir uns aber zugleich die Muͤhe, aus den Briefen unſerer Freunde eigenthuͤmliche Bemerkungen, originelle Anſichten, fluͤchtige geiſtreiche Worte auszuzeichnen, ſo wuͤrden wir ſehr reich wer¬ den. Briefe hebt man auf, um ſie nie wie¬ der zu leſen; man zerſtoͤrt ſie zuletzt einmal aus Discretion, und ſo verſchwindet der ſchoͤnſte unmittelbarſte Lebenshauch unwieder¬ bringlich fuͤr uns und andre. Ich nehme mir vor, dieſes Verſaͤumniß wieder gut zu machen.“

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Wahlverwandtschaften. Bd. 2. Tübingen, 1809, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wahlverw02_1809/178>, abgerufen am 29.03.2024.