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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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Das erstemal als ich durch einen Zufall an ei-
nem schönen Nachmittage unter die Linden kam,
fand ich das Pläzchen so einsam. Es war alles
im Felde. Nur ein Knabe von ohngefähr vier
Jahren saß an der Erde, und hielt ein andres et-
wa halbjähriges vor ihm zwischen seinen Füssen
sitzendes Kind mit beyden Armen wider seine
Brust, so daß er ihm zu einer Art von Sessel
diente, und ohngeachtet der Munterkeit, womit er
aus seinen schwarzen Augen herumschaute, ganz
ruhig saß. Mich vergnügte der Anblik, und ich
sezte mich auf einen Pflug, der gegen über stund,
und zeichnete die brüderliche Stellung mit vielem
Ergözzen, ich fügte den nächsten Zaun, ein Ten-
nenthor und einige gebrochne Wagenräder bey, wie
es all hintereinander stund, und fand nach Ver-
lauf einer Stunde, daß ich eine wohlgeordnete sehr
interessante Zeichnung verfertigt hatte, ohne das
mindeste von dem meinen hinzuzuthun. Das be-
stärkte mich in meinem Vorsazze, mich künftig allein
an die Natur zu halten. Sie allein ist unend-
lich reich, und sie allein bildet den großen Künst-
ler. Man kann zum Vortheile der Regeln viel

sagen,
B 3



Das erſtemal als ich durch einen Zufall an ei-
nem ſchoͤnen Nachmittage unter die Linden kam,
fand ich das Plaͤzchen ſo einſam. Es war alles
im Felde. Nur ein Knabe von ohngefaͤhr vier
Jahren ſaß an der Erde, und hielt ein andres et-
wa halbjaͤhriges vor ihm zwiſchen ſeinen Fuͤſſen
ſitzendes Kind mit beyden Armen wider ſeine
Bruſt, ſo daß er ihm zu einer Art von Seſſel
diente, und ohngeachtet der Munterkeit, womit er
aus ſeinen ſchwarzen Augen herumſchaute, ganz
ruhig ſaß. Mich vergnuͤgte der Anblik, und ich
ſezte mich auf einen Pflug, der gegen uͤber ſtund,
und zeichnete die bruͤderliche Stellung mit vielem
Ergoͤzzen, ich fuͤgte den naͤchſten Zaun, ein Ten-
nenthor und einige gebrochne Wagenraͤder bey, wie
es all hintereinander ſtund, und fand nach Ver-
lauf einer Stunde, daß ich eine wohlgeordnete ſehr
intereſſante Zeichnung verfertigt hatte, ohne das
mindeſte von dem meinen hinzuzuthun. Das be-
ſtaͤrkte mich in meinem Vorſazze, mich kuͤnftig allein
an die Natur zu halten. Sie allein iſt unend-
lich reich, und ſie allein bildet den großen Kuͤnſt-
ler. Man kann zum Vortheile der Regeln viel

ſagen,
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[21/0021] Das erſtemal als ich durch einen Zufall an ei- nem ſchoͤnen Nachmittage unter die Linden kam, fand ich das Plaͤzchen ſo einſam. Es war alles im Felde. Nur ein Knabe von ohngefaͤhr vier Jahren ſaß an der Erde, und hielt ein andres et- wa halbjaͤhriges vor ihm zwiſchen ſeinen Fuͤſſen ſitzendes Kind mit beyden Armen wider ſeine Bruſt, ſo daß er ihm zu einer Art von Seſſel diente, und ohngeachtet der Munterkeit, womit er aus ſeinen ſchwarzen Augen herumſchaute, ganz ruhig ſaß. Mich vergnuͤgte der Anblik, und ich ſezte mich auf einen Pflug, der gegen uͤber ſtund, und zeichnete die bruͤderliche Stellung mit vielem Ergoͤzzen, ich fuͤgte den naͤchſten Zaun, ein Ten- nenthor und einige gebrochne Wagenraͤder bey, wie es all hintereinander ſtund, und fand nach Ver- lauf einer Stunde, daß ich eine wohlgeordnete ſehr intereſſante Zeichnung verfertigt hatte, ohne das mindeſte von dem meinen hinzuzuthun. Das be- ſtaͤrkte mich in meinem Vorſazze, mich kuͤnftig allein an die Natur zu halten. Sie allein iſt unend- lich reich, und ſie allein bildet den großen Kuͤnſt- ler. Man kann zum Vortheile der Regeln viel ſagen, B 3

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/21>, abgerufen am 25.04.2024.