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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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sah sie fest an, so lang hats keine Gefahr. Und
wir haben beyde ausgehalten, bis an ihr Thor, da
ihr die Magd leise aufmachte, und auf ihr Fra-
gen vom Vater und den Kleinen versicherte, daß
alles wohl. sey und noch schlief. Und da verließ
ich sie mit dem Versichern: sie selbigen Tags noch
zu sehn, und hab mein Versprechen gehalten, und
seit der Zeit können Sonne, Mond und Sterne
geruhig ihre Wirthschaft treiben, ich weis weder
daß Tag noch daß Nacht ist, und die ganze Welt
verliert sich um mich her.




Jch lebe so glükliche Tage, wie sie Gott seinen
Heiligen ausspart, und mit mir mag werden
was will; so darf ich nicht sagen, daß ich die Freu-
den, die reinsten Freuden des Lebens nicht genos-
sen habe. Du kennst mein Wahlheim. Dort bin
ich völlig etablirt. Von dort hab ich nur eine hal-
be Stunde zu Lotten, dort fühl ich mich selbst
und alles Glük, das dem Menschen gegeben ist.

Hätte ich gedacht, als ich mir Wahlheim
zum Zwekke meiner Spaziergänge wählte, daß es so

nahe



ſah ſie feſt an, ſo lang hats keine Gefahr. Und
wir haben beyde ausgehalten, bis an ihr Thor, da
ihr die Magd leiſe aufmachte, und auf ihr Fra-
gen vom Vater und den Kleinen verſicherte, daß
alles wohl. ſey und noch ſchlief. Und da verließ
ich ſie mit dem Verſichern: ſie ſelbigen Tags noch
zu ſehn, und hab mein Verſprechen gehalten, und
ſeit der Zeit koͤnnen Sonne, Mond und Sterne
geruhig ihre Wirthſchaft treiben, ich weis weder
daß Tag noch daß Nacht iſt, und die ganze Welt
verliert ſich um mich her.




Jch lebe ſo gluͤkliche Tage, wie ſie Gott ſeinen
Heiligen ausſpart, und mit mir mag werden
was will; ſo darf ich nicht ſagen, daß ich die Freu-
den, die reinſten Freuden des Lebens nicht genoſ-
ſen habe. Du kennſt mein Wahlheim. Dort bin
ich voͤllig etablirt. Von dort hab ich nur eine hal-
be Stunde zu Lotten, dort fuͤhl ich mich ſelbſt
und alles Gluͤk, das dem Menſchen gegeben iſt.

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zum Zwekke meiner Spaziergaͤnge waͤhlte, daß es ſo

nahe
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[45/0045] ſah ſie feſt an, ſo lang hats keine Gefahr. Und wir haben beyde ausgehalten, bis an ihr Thor, da ihr die Magd leiſe aufmachte, und auf ihr Fra- gen vom Vater und den Kleinen verſicherte, daß alles wohl. ſey und noch ſchlief. Und da verließ ich ſie mit dem Verſichern: ſie ſelbigen Tags noch zu ſehn, und hab mein Verſprechen gehalten, und ſeit der Zeit koͤnnen Sonne, Mond und Sterne geruhig ihre Wirthſchaft treiben, ich weis weder daß Tag noch daß Nacht iſt, und die ganze Welt verliert ſich um mich her. am 21. Juny. Jch lebe ſo gluͤkliche Tage, wie ſie Gott ſeinen Heiligen ausſpart, und mit mir mag werden was will; ſo darf ich nicht ſagen, daß ich die Freu- den, die reinſten Freuden des Lebens nicht genoſ- ſen habe. Du kennſt mein Wahlheim. Dort bin ich voͤllig etablirt. Von dort hab ich nur eine hal- be Stunde zu Lotten, dort fuͤhl ich mich ſelbſt und alles Gluͤk, das dem Menſchen gegeben iſt. Haͤtte ich gedacht, als ich mir Wahlheim zum Zwekke meiner Spaziergaͤnge waͤhlte, daß es ſo nahe

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/45>, abgerufen am 28.03.2024.