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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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darinne, wie unser Auge, und wir sehnen uns, ach!
unser ganzes Wesen hinzugeben, uns mit all der
Wonne eines einzigen grossen herrlichen Gefühls
ausfüllen zu lassen. -- Und ach, wenn wir hinzu-
eilen, wenn das Dort nun Hier wird, ist alles vor
wie nach, und wir stehen in unserer Armuth, in
unserer Eingeschränktheit, und unsere Seele lechzt
nach entschlüpftem Labsale.

Und so sehnt sich der unruhigste Vagabund
zulezt wieder nach seinem Vaterlande, und findet
in seiner Hütte, an der Brust seiner Gattin, in
dem Kreise seiner Kinder und der Geschäfte zu ih-
rer Erhaltung, all die Wonne, die er in der weiten
öden Welt vergebens suchte.

Wenn ich so des Morgens mit Sonnen-
aufgange hinausgehe nach meinem Wahlheim, und
dort im Wirthsgarten mir meine Zukkererbsen selbst
pflükke, mich hinsezze, und sie abfädme und dazwi-
schen lese in meinem Homer. Wenn ich denn in
der kleinen Küche mir einen Topf wähle, mir
Butter aussteche, meine Schoten an's Feuer stelle,
zudekke und mich dazu sezze, sie manchmal umzu-
schütteln. Da fühl ich so lebhaft, wie die herrli-

chen



darinne, wie unſer Auge, und wir ſehnen uns, ach!
unſer ganzes Weſen hinzugeben, uns mit all der
Wonne eines einzigen groſſen herrlichen Gefuͤhls
ausfuͤllen zu laſſen. — Und ach, wenn wir hinzu-
eilen, wenn das Dort nun Hier wird, iſt alles vor
wie nach, und wir ſtehen in unſerer Armuth, in
unſerer Eingeſchraͤnktheit, und unſere Seele lechzt
nach entſchluͤpftem Labſale.

Und ſo ſehnt ſich der unruhigſte Vagabund
zulezt wieder nach ſeinem Vaterlande, und findet
in ſeiner Huͤtte, an der Bruſt ſeiner Gattin, in
dem Kreiſe ſeiner Kinder und der Geſchaͤfte zu ih-
rer Erhaltung, all die Wonne, die er in der weiten
oͤden Welt vergebens ſuchte.

Wenn ich ſo des Morgens mit Sonnen-
aufgange hinausgehe nach meinem Wahlheim, und
dort im Wirthsgarten mir meine Zukkererbſen ſelbſt
pfluͤkke, mich hinſezze, und ſie abfaͤdme und dazwi-
ſchen leſe in meinem Homer. Wenn ich denn in
der kleinen Kuͤche mir einen Topf waͤhle, mir
Butter ausſteche, meine Schoten an’s Feuer ſtelle,
zudekke und mich dazu ſezze, ſie manchmal umzu-
ſchuͤtteln. Da fuͤhl ich ſo lebhaft, wie die herrli-

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[47/0047] darinne, wie unſer Auge, und wir ſehnen uns, ach! unſer ganzes Weſen hinzugeben, uns mit all der Wonne eines einzigen groſſen herrlichen Gefuͤhls ausfuͤllen zu laſſen. — Und ach, wenn wir hinzu- eilen, wenn das Dort nun Hier wird, iſt alles vor wie nach, und wir ſtehen in unſerer Armuth, in unſerer Eingeſchraͤnktheit, und unſere Seele lechzt nach entſchluͤpftem Labſale. Und ſo ſehnt ſich der unruhigſte Vagabund zulezt wieder nach ſeinem Vaterlande, und findet in ſeiner Huͤtte, an der Bruſt ſeiner Gattin, in dem Kreiſe ſeiner Kinder und der Geſchaͤfte zu ih- rer Erhaltung, all die Wonne, die er in der weiten oͤden Welt vergebens ſuchte. Wenn ich ſo des Morgens mit Sonnen- aufgange hinausgehe nach meinem Wahlheim, und dort im Wirthsgarten mir meine Zukkererbſen ſelbſt pfluͤkke, mich hinſezze, und ſie abfaͤdme und dazwi- ſchen leſe in meinem Homer. Wenn ich denn in der kleinen Kuͤche mir einen Topf waͤhle, mir Butter ausſteche, meine Schoten an’s Feuer ſtelle, zudekke und mich dazu ſezze, ſie manchmal umzu- ſchuͤtteln. Da fuͤhl ich ſo lebhaft, wie die herrli- chen

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/47>, abgerufen am 28.03.2024.