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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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und nur Lottens Stimme, die mir rief: wir woll-
ten fort, brachte mich zu mir selbst. Und wie sie
mich auf dem Wege schalt, über den zu warmen
Antheil an allem! und daß ich drüber zu Grunde
gehen würde! Daß ich mich schonen sollte! O der
Engel! Um deinetwillen muß ich leben!




Sie ist immer um ihre sterbende Freundinn, und
ist immer dieselbe, immer das gegenwärtige
holde Geschöpf, das, wo sie hinsieht, Schmerzen lin-
dert und Glückliche macht. Sie gieng gestern
Abend mit Mariannen und dem kleinen Malgen
spazieren, ich wußt es und traf sie an, und wir
giengen zusammen. Nach einem Wege von andert-
halb Stunden kamen wir gegen die Stadt zurück,
an den Brunnen, der mir so werth ist, und nun
tausendmal werther ward, als Lotte sich auf's
Mäuergen sezte. Jch sah umher, ach! und die
Zeit, da mein Herz so allein war, lebte wieder vor
mir auf. Lieber Brunn, sagt ich, seither hab ich
nicht mehr an deiner Kühle geruht, habe in eilen-

dem



und nur Lottens Stimme, die mir rief: wir woll-
ten fort, brachte mich zu mir ſelbſt. Und wie ſie
mich auf dem Wege ſchalt, uͤber den zu warmen
Antheil an allem! und daß ich druͤber zu Grunde
gehen wuͤrde! Daß ich mich ſchonen ſollte! O der
Engel! Um deinetwillen muß ich leben!




Sie iſt immer um ihre ſterbende Freundinn, und
iſt immer dieſelbe, immer das gegenwaͤrtige
holde Geſchoͤpf, das, wo ſie hinſieht, Schmerzen lin-
dert und Gluͤckliche macht. Sie gieng geſtern
Abend mit Mariannen und dem kleinen Malgen
ſpazieren, ich wußt es und traf ſie an, und wir
giengen zuſammen. Nach einem Wege von andert-
halb Stunden kamen wir gegen die Stadt zuruͤck,
an den Brunnen, der mir ſo werth iſt, und nun
tauſendmal werther ward, als Lotte ſich auf’s
Maͤuergen ſezte. Jch ſah umher, ach! und die
Zeit, da mein Herz ſo allein war, lebte wieder vor
mir auf. Lieber Brunn, ſagt ich, ſeither hab ich
nicht mehr an deiner Kuͤhle geruht, habe in eilen-

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[59/0059] und nur Lottens Stimme, die mir rief: wir woll- ten fort, brachte mich zu mir ſelbſt. Und wie ſie mich auf dem Wege ſchalt, uͤber den zu warmen Antheil an allem! und daß ich druͤber zu Grunde gehen wuͤrde! Daß ich mich ſchonen ſollte! O der Engel! Um deinetwillen muß ich leben! am 6. Juli. Sie iſt immer um ihre ſterbende Freundinn, und iſt immer dieſelbe, immer das gegenwaͤrtige holde Geſchoͤpf, das, wo ſie hinſieht, Schmerzen lin- dert und Gluͤckliche macht. Sie gieng geſtern Abend mit Mariannen und dem kleinen Malgen ſpazieren, ich wußt es und traf ſie an, und wir giengen zuſammen. Nach einem Wege von andert- halb Stunden kamen wir gegen die Stadt zuruͤck, an den Brunnen, der mir ſo werth iſt, und nun tauſendmal werther ward, als Lotte ſich auf’s Maͤuergen ſezte. Jch ſah umher, ach! und die Zeit, da mein Herz ſo allein war, lebte wieder vor mir auf. Lieber Brunn, ſagt ich, ſeither hab ich nicht mehr an deiner Kuͤhle geruht, habe in eilen- dem

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/59>, abgerufen am 29.03.2024.