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Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774.

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Und ob das Vermessenheit ist oder Gefühl des
wahren Verhältnisses: Jch kenne den Menschen
nicht, von dem ich etwas in Lottens Herzen fürch-
tete. Und doch -- wenn sie von ihrem Bräuti-
gam spricht mit all der Wärme, all der Liebe, da
ist mir's wie einem, der all seiner Ehren und Wür-
den entsezt, und dem der Degen abgenommen wird.




Ach wie mir das durch alle Adern läuft, wenn
mein Finger unversehns den ihrigen berührt,
wenn unsere Füsse sich unter dem Tische begegnen.
Jch ziehe zurück wie vom Feuer, und eine gehei-
me Kraft zieht mich wieder vorwärts, mir wirds
so schwindlich vor allen Sinnen. O und ihre Un-
schuld, ihre unbefangene Seele fühlt nicht, wie sehr
mich die kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn
sie gar im Gespräch ihre Hand auf die meinige legt,
und im Jnteresse der Unterredung näher zu mir
rückt, daß der himmlische Athem ihres Mundes
meine Lippen reichen kann. -- Jch glaube zu
versinken wie vom Wetter gerührt. Und Wilhelm,

wenn


Und ob das Vermeſſenheit iſt oder Gefuͤhl des
wahren Verhaͤltniſſes: Jch kenne den Menſchen
nicht, von dem ich etwas in Lottens Herzen fuͤrch-
tete. Und doch — wenn ſie von ihrem Braͤuti-
gam ſpricht mit all der Waͤrme, all der Liebe, da
iſt mir’s wie einem, der all ſeiner Ehren und Wuͤr-
den entſezt, und dem der Degen abgenommen wird.




Ach wie mir das durch alle Adern laͤuft, wenn
mein Finger unverſehns den ihrigen beruͤhrt,
wenn unſere Fuͤſſe ſich unter dem Tiſche begegnen.
Jch ziehe zuruͤck wie vom Feuer, und eine gehei-
me Kraft zieht mich wieder vorwaͤrts, mir wirds
ſo ſchwindlich vor allen Sinnen. O und ihre Un-
ſchuld, ihre unbefangene Seele fuͤhlt nicht, wie ſehr
mich die kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn
ſie gar im Geſpraͤch ihre Hand auf die meinige legt,
und im Jntereſſe der Unterredung naͤher zu mir
ruͤckt, daß der himmliſche Athem ihres Mundes
meine Lippen reichen kann. — Jch glaube zu
verſinken wie vom Wetter geruͤhrt. Und Wilhelm,

wenn
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[66/0066] Und ob das Vermeſſenheit iſt oder Gefuͤhl des wahren Verhaͤltniſſes: Jch kenne den Menſchen nicht, von dem ich etwas in Lottens Herzen fuͤrch- tete. Und doch — wenn ſie von ihrem Braͤuti- gam ſpricht mit all der Waͤrme, all der Liebe, da iſt mir’s wie einem, der all ſeiner Ehren und Wuͤr- den entſezt, und dem der Degen abgenommen wird. am 16. Juli. Ach wie mir das durch alle Adern laͤuft, wenn mein Finger unverſehns den ihrigen beruͤhrt, wenn unſere Fuͤſſe ſich unter dem Tiſche begegnen. Jch ziehe zuruͤck wie vom Feuer, und eine gehei- me Kraft zieht mich wieder vorwaͤrts, mir wirds ſo ſchwindlich vor allen Sinnen. O und ihre Un- ſchuld, ihre unbefangene Seele fuͤhlt nicht, wie ſehr mich die kleinen Vertraulichkeiten peinigen. Wenn ſie gar im Geſpraͤch ihre Hand auf die meinige legt, und im Jntereſſe der Unterredung naͤher zu mir ruͤckt, daß der himmliſche Athem ihres Mundes meine Lippen reichen kann. — Jch glaube zu verſinken wie vom Wetter geruͤhrt. Und Wilhelm, wenn

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Die Leiden des jungen Werthers. Bd. 1. Leipzig, 1774, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_werther01_1774/66>, abgerufen am 28.03.2024.