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[Goethe, Johann Wolfgang von]: [Rezension zu:] […] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, herausgegeben von Achim von Arnim und Clemens Brentano. In: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, Jg. 3 (1806), Nr. 18, 21. Januar, Sp. 137–144 und Nr. 19, 22. Januar, Sp. 145–148.

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Die Kritik dürfte sich vorerst nach unserem Dafürhalten mit dieser Sammlung nicht befassen. Die Herausgeber haben solche mit so viel Neigung, Fleiß, Geschmack, Zartheit zusammengebracht und behandelt, daß ihre Landsleute dieser liebevollen Mühe nun wohl erst mit gutem Willen, Theilnahme und Mitgenuß zu danken hätten. Von Rechtswegen sollte dieses Büchlein in jedem Hause, wo frische Menschen wohnen, am Fenster, unterm Spiegel, oder wo sonst Gesang- und Kochbücher zu liegen pflegen, zu finden seyn, um aufgeschlagen zu werden in jedem Augenblick der Stimmung oder Unstimmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes oder Anregendes fände, wenn man auch allenfalls das Blatt ein paarmal umschlagen müßte.

Am besten aber läge doch dieser Band auf dem Clavier des Liebhabers oder Meisters der Tonkunst, um den darin enthaltenen Liedern entweder mit bekannten hergebrachten Melodien ganz ihr Recht widerfahren zu lassen, oder ihnen schickliche Weisen anzuschmiegen, oder, wenn Gott wollte, neue bedeutende Melodien durch sie hervorzulocken.

Würden dann diese Lieder, nach und nach, in ihrem eigenen Ton- und Klangelemente von Ohr zu Ohr, von Mund zu Mund getragen, kehrten sie, allmälich, belebt und verherrlicht, zum Volke zurück, von dem sie zum Theil gewissermaßen ausgegangen: so könnte man sagen, das Büchlein habe seine Bestimmung erfüllt, und könne nun wieder, als geschrieben und gedruckt, verloren gehen, weil es in Leben und Bildung der Nation übergegangen.

Weil nun aber in der neueren Zeit, besonders in Deutschland, nichts zu existiren und zu wirken scheint, wenn nicht darüber geschrieben und wieder geschrieben und geurtheilt und gestritten wird: so mag denn auch über diese Sammlung hier einige Betrachtung stehen, die, wenn sie den Genuß auch nicht erhöht und verbreitet, doch wenigstens ihm nicht entgegen wirken soll.

Was man entschieden zu Lob und Ehren dieser Sammlung sagen kann, ist, daß die Theile derselben durchaus mannichfaltig charakteristisch sind. Sie enthält über zweyhundert Gedichte aus den drey letzten
[Spaltenumbruch] Jahrhunderten, sämmtlich dem Sinne, der Erfindung, dem Ton, der Art und Weise nach dergestalt von einander unterschieden, daß man keins dem andern vollkommen gleichstellen kann. Wir übernehmen das unterhaltende Geschäft, sie alle der Reihe nach, so wie es uns der Augenblick eingiebt, zu charakterisiren.

Das Wunderhorn, (Seite 13.) Feenhaft, kindlich, gefällig.
Des Sultans Töchterlein, (15.) Christlich zart, anmuthig.
Tell und sein Kind, (18.) Rechtlich und tüchtig.
Großmutter Schlangenköchin, (19.) Tief, räthselhaft, dramatisch vortrefflich behandelt.
Jesaias Gesicht, (20.) Barbarisch groß.
Das Feuerbesprechen, (21.) Räuberisch ganz gehörig und recht.
Der arme Schwartenhals, (22.) Vagabundisch, launig, lustig.
Der Tod und das Mädchen, (24.) In Todtentanz-Art, holzschnittmäßig, lobenswürdig.
Nachtmusikanten, (29.) Närrisch, ausgelassen, köstlich.
Widerspenstige Braut, (30.) Humoristisch, etwas fratzenhaft.
Klosterscheu, (32.) Launenhaft verworren und doch zum Zweck.
Der vorlaute Ritter, (32.) Im real-romantischen Sinn gar zu gut.
Die schwarzbraune Hexe, (34.) Durch Überlieferung etwas confus, der Grund aber unschätzbar.
Der Dollinger, (36.) Ritterhaft tüchtig.
Liebe ohne Stand, (37.) Dunkel romantisch.
Gastlichkeit des Winters, (39.) Sehr zierlich.
Die hohe Magd, (40.) Christlich pedantisch, nicht ganz unpoetisch.
Liebe spinnt keine Seide, (42.) Lieblich confus und deßwegen Phantasie erregend.
Husarenglaube, (43.) Schnelligkeit, Leichtigkeit musterhaft ausgedrückt.
Rattenfänger von Hameln, (44.) Zuckt aufs Bänkelsängerische, aber nicht unfein.
Schürz dich Gretlein, (46.) Im Vagabunden-Sinn. Unerwartet epigrammatisch.
Lied vom Ringe, (48.) Romantisch zart.
Der Ritter und die Magd, (50.) Dunkel romantisch, gewaltsam.
Der Schreiber im Korb, (53.) Den Schlag wiederholendes, zweckmäßiges Spottgedicht.
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Die Kritik dürfte sich vorerst nach unserem Dafürhalten mit dieser Sammlung nicht befassen. Die Herausgeber haben solche mit so viel Neigung, Fleiß, Geschmack, Zartheit zusammengebracht und behandelt, daß ihre Landsleute dieser liebevollen Mühe nun wohl erst mit gutem Willen, Theilnahme und Mitgenuß zu danken hätten. Von Rechtswegen sollte dieses Büchlein in jedem Hause, wo frische Menschen wohnen, am Fenster, unterm Spiegel, oder wo sonst Gesang- und Kochbücher zu liegen pflegen, zu finden seyn, um aufgeschlagen zu werden in jedem Augenblick der Stimmung oder Unstimmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes oder Anregendes fände, wenn man auch allenfalls das Blatt ein paarmal umschlagen müßte.

Am besten aber läge doch dieser Band auf dem Clavier des Liebhabers oder Meisters der Tonkunst, um den darin enthaltenen Liedern entweder mit bekannten hergebrachten Melodien ganz ihr Recht widerfahren zu lassen, oder ihnen schickliche Weisen anzuschmiegen, oder, wenn Gott wollte, neue bedeutende Melodien durch sie hervorzulocken.

Würden dann diese Lieder, nach und nach, in ihrem eigenen Ton- und Klangelemente von Ohr zu Ohr, von Mund zu Mund getragen, kehrten sie, allmälich, belebt und verherrlicht, zum Volke zurück, von dem sie zum Theil gewissermaßen ausgegangen: so könnte man sagen, das Büchlein habe seine Bestimmung erfüllt, und könne nun wieder, als geschrieben und gedruckt, verloren gehen, weil es in Leben und Bildung der Nation übergegangen.

Weil nun aber in der neueren Zeit, besonders in Deutschland, nichts zu existiren und zu wirken scheint, wenn nicht darüber geschrieben und wieder geschrieben und geurtheilt und gestritten wird: so mag denn auch über diese Sammlung hier einige Betrachtung stehen, die, wenn sie den Genuß auch nicht erhöht und verbreitet, doch wenigstens ihm nicht entgegen wirken soll.

Was man entschieden zu Lob und Ehren dieser Sammlung sagen kann, ist, daß die Theile derselben durchaus mannichfaltig charakteristisch sind. Sie enthält über zweyhundert Gedichte aus den drey letzten
[Spaltenumbruch] Jahrhunderten, sämmtlich dem Sinne, der Erfindung, dem Ton, der Art und Weise nach dergestalt von einander unterschieden, daß man keins dem andern vollkommen gleichstellen kann. Wir übernehmen das unterhaltende Geschäft, sie alle der Reihe nach, so wie es uns der Augenblick eingiebt, zu charakterisiren.

Das Wunderhorn, (Seite 13.) Feenhaft, kindlich, gefällig.
Des Sultans Töchterlein, (15.) Christlich zart, anmuthig.
Tell und sein Kind, (18.) Rechtlich und tüchtig.
Großmutter Schlangenköchin, (19.) Tief, räthselhaft, dramatisch vortrefflich behandelt.
Jesaias Gesicht, (20.) Barbarisch groß.
Das Feuerbesprechen, (21.) Räuberisch ganz gehörig und recht.
Der arme Schwartenhals, (22.) Vagabundisch, launig, lustig.
Der Tod und das Mädchen, (24.) In Todtentanz-Art, holzschnittmäßig, lobenswürdig.
Nachtmusikanten, (29.) Närrisch, ausgelassen, köstlich.
Widerspenstige Braut, (30.) Humoristisch, etwas fratzenhaft.
Klosterscheu, (32.) Launenhaft verworren und doch zum Zweck.
Der vorlaute Ritter, (32.) Im real-romantischen Sinn gar zu gut.
Die schwarzbraune Hexe, (34.) Durch Überlieferung etwas confus, der Grund aber unschätzbar.
Der Dollinger, (36.) Ritterhaft tüchtig.
Liebe ohne Stand, (37.) Dunkel romantisch.
Gastlichkeit des Winters, (39.) Sehr zierlich.
Die hohe Magd, (40.) Christlich pedantisch, nicht ganz unpoetisch.
Liebe spinnt keine Seide, (42.) Lieblich confus und deßwegen Phantasie erregend.
Husarenglaube, (43.) Schnelligkeit, Leichtigkeit musterhaft ausgedrückt.
Rattenfänger von Hameln, (44.) Zuckt aufs Bänkelsängerische, aber nicht unfein.
Schürz dich Gretlein, (46.) Im Vagabunden-Sinn. Unerwartet epigrammatisch.
Lied vom Ringe, (48.) Romantisch zart.
Der Ritter und die Magd, (50.) Dunkel romantisch, gewaltsam.
Der Schreiber im Korb, (53.) Den Schlag wiederholendes, zweckmäßiges Spottgedicht.
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[137-138/0002] ________ Johann Wolfgang Goethe: Rezension zu: Heidelberg, b. Mohr u. Zimmer: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, herausgegeben von Achim von Arnim und Clemens Brentano. 1806. 470 S. gr. 8 (2 Rthlr. 12 gr.) Die Kritik dürfte sich vorerst nach unserem Dafürhalten mit dieser Sammlung nicht befassen. Die Herausgeber haben solche mit so viel Neigung, Fleiß, Geschmack, Zartheit zusammengebracht und behandelt, daß ihre Landsleute dieser liebevollen Mühe nun wohl erst mit gutem Willen, Theilnahme und Mitgenuß zu danken hätten. Von Rechtswegen sollte dieses Büchlein in jedem Hause, wo frische Menschen wohnen, am Fenster, unterm Spiegel, oder wo sonst Gesang- und Kochbücher zu liegen pflegen, zu finden seyn, um aufgeschlagen zu werden in jedem Augenblick der Stimmung oder Unstimmung, wo man denn immer etwas Gleichtönendes oder Anregendes fände, wenn man auch allenfalls das Blatt ein paarmal umschlagen müßte. Am besten aber läge doch dieser Band auf dem Clavier des Liebhabers oder Meisters der Tonkunst, um den darin enthaltenen Liedern entweder mit bekannten hergebrachten Melodien ganz ihr Recht widerfahren zu lassen, oder ihnen schickliche Weisen anzuschmiegen, oder, wenn Gott wollte, neue bedeutende Melodien durch sie hervorzulocken. Würden dann diese Lieder, nach und nach, in ihrem eigenen Ton- und Klangelemente von Ohr zu Ohr, von Mund zu Mund getragen, kehrten sie, allmälich, belebt und verherrlicht, zum Volke zurück, von dem sie zum Theil gewissermaßen ausgegangen: so könnte man sagen, das Büchlein habe seine Bestimmung erfüllt, und könne nun wieder, als geschrieben und gedruckt, verloren gehen, weil es in Leben und Bildung der Nation übergegangen. Weil nun aber in der neueren Zeit, besonders in Deutschland, nichts zu existiren und zu wirken scheint, wenn nicht darüber geschrieben und wieder geschrieben und geurtheilt und gestritten wird: so mag denn auch über diese Sammlung hier einige Betrachtung stehen, die, wenn sie den Genuß auch nicht erhöht und verbreitet, doch wenigstens ihm nicht entgegen wirken soll. Was man entschieden zu Lob und Ehren dieser Sammlung sagen kann, ist, daß die Theile derselben durchaus mannichfaltig charakteristisch sind. Sie enthält über zweyhundert Gedichte aus den drey letzten Jahrhunderten, sämmtlich dem Sinne, der Erfindung, dem Ton, der Art und Weise nach dergestalt von einander unterschieden, daß man keins dem andern vollkommen gleichstellen kann. Wir übernehmen das unterhaltende Geschäft, sie alle der Reihe nach, so wie es uns der Augenblick eingiebt, zu charakterisiren. Das Wunderhorn, (Seite 13.) Feenhaft, kindlich, gefällig. Des Sultans Töchterlein, (15.) Christlich zart, anmuthig. Tell und sein Kind, (18.) Rechtlich und tüchtig. Großmutter Schlangenköchin, (19.) Tief, räthselhaft, dramatisch vortrefflich behandelt. Jesaias Gesicht, (20.) Barbarisch groß. Das Feuerbesprechen, (21.) Räuberisch ganz gehörig und recht. Der arme Schwartenhals, (22.) Vagabundisch, launig, lustig. Der Tod und das Mädchen, (24.) In Todtentanz-Art, holzschnittmäßig, lobenswürdig. Nachtmusikanten, (29.) Närrisch, ausgelassen, köstlich. Widerspenstige Braut, (30.) Humoristisch, etwas fratzenhaft. Klosterscheu, (32.) Launenhaft verworren und doch zum Zweck. Der vorlaute Ritter, (32.) Im real-romantischen Sinn gar zu gut. Die schwarzbraune Hexe, (34.) Durch Überlieferung etwas confus, der Grund aber unschätzbar. Der Dollinger, (36.) Ritterhaft tüchtig. Liebe ohne Stand, (37.) Dunkel romantisch. Gastlichkeit des Winters, (39.) Sehr zierlich. Die hohe Magd, (40.) Christlich pedantisch, nicht ganz unpoetisch. Liebe spinnt keine Seide, (42.) Lieblich confus und deßwegen Phantasie erregend. Husarenglaube, (43.) Schnelligkeit, Leichtigkeit musterhaft ausgedrückt. Rattenfänger von Hameln, (44.) Zuckt aufs Bänkelsängerische, aber nicht unfein. Schürz dich Gretlein, (46.) Im Vagabunden-Sinn. Unerwartet epigrammatisch. Lied vom Ringe, (48.) Romantisch zart. Der Ritter und die Magd, (50.) Dunkel romantisch, gewaltsam. Der Schreiber im Korb, (53.) Den Schlag wiederholendes, zweckmäßiges Spottgedicht.

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Zitationshilfe: [Goethe, Johann Wolfgang von]: [Rezension zu:] […] Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, herausgegeben von Achim von Arnim und Clemens Brentano. In: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, Jg. 3 (1806), Nr. 18, 21. Januar, Sp. 137–144 und Nr. 19, 22. Januar, Sp. 145–148, S. 137-138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_wunderhorn_1806/2>, abgerufen am 18.04.2024.