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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Von dem Wunderbahren in der Poesie.
Das fünfte Capitel.
Von dem Wunderbahren in der
Poesie.

JM ersten Capitel ist schon beyläufig gedacht worden,
daß sich die ältesten Dichter angelegen seyn lassen, bey
dem einfältigen Haufen ein Ansehen zu erwerben, und
von ihnen bewundert zu werden. Nun bewundert man
nichts gemeines und alltägliches, sondern lauter neue, seltsa-
me und fürtreffliche Sachen. Daher musten auch die Poe-
ten auf was ungemeines dencken, dadurch sie die Leute an sich
ziehen, einnehmen, und gleichsam bezaubern könnten. Der
Grund dieser Bemühung steckt in der menschlichen Neugie-
rigkeit; und die Wirckungen habens gewiesen, daß sie nicht
vergebens gewesen. An sich selbst aber ist dergleichen Mit-
tel, die Leute aufmercksam zu machen, erlaubt: wenn man
nur den Endzweck hat, sie bey der Belustigung zu bessern und
zu lehren.

Nun kan man wohl freylich die Fabel selbst, davon wir
im vorigen Capitel gehandelt haben, von dem Wunderbahren
nicht ausschließen. Die Esopischen Fabeln insonderheit sind
von der Art, daß sie Kindern und Einfältigen sehr wunder-
bar vorkommen; bloß weil es neu und seltsam zu hören ist,
daß Thiere, Bäume und andere leblose Dinge vernünftig
sollen geredet haben. Die göttlichen Fabeln sind völlig von
eben der Gattung. Es dünckete denen alten Heyden sehr
wundersam zu seyn, wenn sie höreten, daß die grösten himm-
lischen und irrdischen Götter eben so als wir Menschen be-
schaffen seyn sollten, wie sie Hesiodus und Homerus be-
schrieben. Und sie hatten große Ursache dazu, weil die ersten
Poeten sehr unrichtige Begriffe von der Gottheit gehabt;
die der Vernunft nothwendig ein Anstoß und Aergerniß ge-
ben musten. Die menschlichen Fabeln, die in Heldengedich-
ten, Schauspielen und Schäfergedichten hauptsächlich herr-
schen, scheinen anfangs nicht viel wunderbares in sich zu be-

greifen,
Von dem Wunderbahren in der Poeſie.
Das fuͤnfte Capitel.
Von dem Wunderbahren in der
Poeſie.

JM erſten Capitel iſt ſchon beylaͤufig gedacht worden,
daß ſich die aͤlteſten Dichter angelegen ſeyn laſſen, bey
dem einfaͤltigen Haufen ein Anſehen zu erwerben, und
von ihnen bewundert zu werden. Nun bewundert man
nichts gemeines und alltaͤgliches, ſondern lauter neue, ſeltſa-
me und fuͤrtreffliche Sachen. Daher muſten auch die Poe-
ten auf was ungemeines dencken, dadurch ſie die Leute an ſich
ziehen, einnehmen, und gleichſam bezaubern koͤnnten. Der
Grund dieſer Bemuͤhung ſteckt in der menſchlichen Neugie-
rigkeit; und die Wirckungen habens gewieſen, daß ſie nicht
vergebens geweſen. An ſich ſelbſt aber iſt dergleichen Mit-
tel, die Leute aufmerckſam zu machen, erlaubt: wenn man
nur den Endzweck hat, ſie bey der Beluſtigung zu beſſern und
zu lehren.

Nun kan man wohl freylich die Fabel ſelbſt, davon wir
im vorigen Capitel gehandelt haben, von dem Wunderbahren
nicht ausſchließen. Die Eſopiſchen Fabeln inſonderheit ſind
von der Art, daß ſie Kindern und Einfaͤltigen ſehr wunder-
bar vorkommen; bloß weil es neu und ſeltſam zu hoͤren iſt,
daß Thiere, Baͤume und andere lebloſe Dinge vernuͤnftig
ſollen geredet haben. Die goͤttlichen Fabeln ſind voͤllig von
eben der Gattung. Es duͤnckete denen alten Heyden ſehr
wunderſam zu ſeyn, wenn ſie hoͤreten, daß die groͤſten himm-
liſchen und irrdiſchen Goͤtter eben ſo als wir Menſchen be-
ſchaffen ſeyn ſollten, wie ſie Heſiodus und Homerus be-
ſchrieben. Und ſie hatten große Urſache dazu, weil die erſten
Poeten ſehr unrichtige Begriffe von der Gottheit gehabt;
die der Vernunft nothwendig ein Anſtoß und Aergerniß ge-
ben muſten. Die menſchlichen Fabeln, die in Heldengedich-
ten, Schauſpielen und Schaͤfergedichten hauptſaͤchlich herr-
ſchen, ſcheinen anfangs nicht viel wunderbares in ſich zu be-

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[141/0169] Von dem Wunderbahren in der Poeſie. Das fuͤnfte Capitel. Von dem Wunderbahren in der Poeſie. JM erſten Capitel iſt ſchon beylaͤufig gedacht worden, daß ſich die aͤlteſten Dichter angelegen ſeyn laſſen, bey dem einfaͤltigen Haufen ein Anſehen zu erwerben, und von ihnen bewundert zu werden. Nun bewundert man nichts gemeines und alltaͤgliches, ſondern lauter neue, ſeltſa- me und fuͤrtreffliche Sachen. Daher muſten auch die Poe- ten auf was ungemeines dencken, dadurch ſie die Leute an ſich ziehen, einnehmen, und gleichſam bezaubern koͤnnten. Der Grund dieſer Bemuͤhung ſteckt in der menſchlichen Neugie- rigkeit; und die Wirckungen habens gewieſen, daß ſie nicht vergebens geweſen. An ſich ſelbſt aber iſt dergleichen Mit- tel, die Leute aufmerckſam zu machen, erlaubt: wenn man nur den Endzweck hat, ſie bey der Beluſtigung zu beſſern und zu lehren. Nun kan man wohl freylich die Fabel ſelbſt, davon wir im vorigen Capitel gehandelt haben, von dem Wunderbahren nicht ausſchließen. Die Eſopiſchen Fabeln inſonderheit ſind von der Art, daß ſie Kindern und Einfaͤltigen ſehr wunder- bar vorkommen; bloß weil es neu und ſeltſam zu hoͤren iſt, daß Thiere, Baͤume und andere lebloſe Dinge vernuͤnftig ſollen geredet haben. Die goͤttlichen Fabeln ſind voͤllig von eben der Gattung. Es duͤnckete denen alten Heyden ſehr wunderſam zu ſeyn, wenn ſie hoͤreten, daß die groͤſten himm- liſchen und irrdiſchen Goͤtter eben ſo als wir Menſchen be- ſchaffen ſeyn ſollten, wie ſie Heſiodus und Homerus be- ſchrieben. Und ſie hatten große Urſache dazu, weil die erſten Poeten ſehr unrichtige Begriffe von der Gottheit gehabt; die der Vernunft nothwendig ein Anſtoß und Aergerniß ge- ben muſten. Die menſchlichen Fabeln, die in Heldengedich- ten, Schauſpielen und Schaͤfergedichten hauptſaͤchlich herr- ſchen, ſcheinen anfangs nicht viel wunderbares in ſich zu be- greifen,

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/169>, abgerufen am 28.03.2024.