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Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730.

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Das VI. Capitel
Man sehe hier nochmahls des Herrn Bodmers gründliche
Gedancken von der Beredsamkeit nach, wo verschiedene
Stellen der Poeten von dieser Gattung gründlich geprüfet
und beurtheilet werden.



Das sechste Capitel.
Von der Wahrscheinlichkeit
in der Poesie.

AUs dem vorigen Capitel wird man zur Gnüge ersehen
haben, daß das Wunderbare in der Dichtkunst nicht
ohne Unterscheid statt finde. Es muß auch glaublich
herauskommen, und zu dem Ende weder unmöglich noch
wiedersinnisch aussehen. Daher kommt es denn, daß man
auch im Dichten eine Wahrscheinlichkeit beobachten muß,
ohne welche eine Fabel, oder was es sonst ist, nur ungereimt
und lächerlich seyn würde. Jch verstehe nehmlich durch die
poetische Wahrscheinlichkeit nichts anders, als die Aehnlich-
keit des Erdichteten, mit dem, was wircklich zu geschehen
pflegt; oder die Ubereinstimmung der Fabel mit der Natur.
Horatz hat gleich im Anfange seiner Dichtkunst die Thorheit
eines Mahlers verspottet, der in einem Gemählde einen
Menschenkopf auf einen Pferdehals setzen, einen Vogel-
kropf mit bunten Federn hinzufügen, und den Leib aus Glied-
maßen verschiedner andrer Thiere zusammen flicken wollte.
Die Ursache dieser seiner Regel aber ist keine andre, als weil
solch ein Bild wieder alle Wahrscheinlichkeit laufen würde.
Es thut auch der Einwurf dieser Fürschrifft keinen Eintrag,
den er sich im Nahmen gewisser poetischen Freygeister machet.

Pictoribus atque Poetis
Quidlibet audendi semper fuit aequa potestas.

Denn wie schon oben in den Anmerckungen zu der Ubersetzung
dieser Stelle erinnert worden, so beantwortet er denselben
gleich darauf so, daß er die Freyheit im Dichten in gebüh-
rende Gräntzen einschräncket.

Scimus,

Das VI. Capitel
Man ſehe hier nochmahls des Herrn Bodmers gruͤndliche
Gedancken von der Beredſamkeit nach, wo verſchiedene
Stellen der Poeten von dieſer Gattung gruͤndlich gepruͤfet
und beurtheilet werden.



Das ſechſte Capitel.
Von der Wahrſcheinlichkeit
in der Poeſie.

AUs dem vorigen Capitel wird man zur Gnuͤge erſehen
haben, daß das Wunderbare in der Dichtkunſt nicht
ohne Unterſcheid ſtatt finde. Es muß auch glaublich
herauskommen, und zu dem Ende weder unmoͤglich noch
wiederſinniſch ausſehen. Daher kommt es denn, daß man
auch im Dichten eine Wahrſcheinlichkeit beobachten muß,
ohne welche eine Fabel, oder was es ſonſt iſt, nur ungereimt
und laͤcherlich ſeyn wuͤrde. Jch verſtehe nehmlich durch die
poetiſche Wahrſcheinlichkeit nichts anders, als die Aehnlich-
keit des Erdichteten, mit dem, was wircklich zu geſchehen
pflegt; oder die Ubereinſtimmung der Fabel mit der Natur.
Horatz hat gleich im Anfange ſeiner Dichtkunſt die Thorheit
eines Mahlers verſpottet, der in einem Gemaͤhlde einen
Menſchenkopf auf einen Pferdehals ſetzen, einen Vogel-
kropf mit bunten Federn hinzufuͤgen, und den Leib aus Glied-
maßen verſchiedner andrer Thiere zuſammen flicken wollte.
Die Urſache dieſer ſeiner Regel aber iſt keine andre, als weil
ſolch ein Bild wieder alle Wahrſcheinlichkeit laufen wuͤrde.
Es thut auch der Einwurf dieſer Fuͤrſchrifft keinen Eintrag,
den er ſich im Nahmen gewiſſer poetiſchen Freygeiſter machet.

Pictoribus atque Poetis
Quidlibet audendi ſemper fuit aequa poteſtas.

Denn wie ſchon oben in den Anmerckungen zu der Uberſetzung
dieſer Stelle erinnert worden, ſo beantwortet er denſelben
gleich darauf ſo, daß er die Freyheit im Dichten in gebuͤh-
rende Graͤntzen einſchraͤncket.

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[164/0192] Das VI. Capitel Man ſehe hier nochmahls des Herrn Bodmers gruͤndliche Gedancken von der Beredſamkeit nach, wo verſchiedene Stellen der Poeten von dieſer Gattung gruͤndlich gepruͤfet und beurtheilet werden. Das ſechſte Capitel. Von der Wahrſcheinlichkeit in der Poeſie. AUs dem vorigen Capitel wird man zur Gnuͤge erſehen haben, daß das Wunderbare in der Dichtkunſt nicht ohne Unterſcheid ſtatt finde. Es muß auch glaublich herauskommen, und zu dem Ende weder unmoͤglich noch wiederſinniſch ausſehen. Daher kommt es denn, daß man auch im Dichten eine Wahrſcheinlichkeit beobachten muß, ohne welche eine Fabel, oder was es ſonſt iſt, nur ungereimt und laͤcherlich ſeyn wuͤrde. Jch verſtehe nehmlich durch die poetiſche Wahrſcheinlichkeit nichts anders, als die Aehnlich- keit des Erdichteten, mit dem, was wircklich zu geſchehen pflegt; oder die Ubereinſtimmung der Fabel mit der Natur. Horatz hat gleich im Anfange ſeiner Dichtkunſt die Thorheit eines Mahlers verſpottet, der in einem Gemaͤhlde einen Menſchenkopf auf einen Pferdehals ſetzen, einen Vogel- kropf mit bunten Federn hinzufuͤgen, und den Leib aus Glied- maßen verſchiedner andrer Thiere zuſammen flicken wollte. Die Urſache dieſer ſeiner Regel aber iſt keine andre, als weil ſolch ein Bild wieder alle Wahrſcheinlichkeit laufen wuͤrde. Es thut auch der Einwurf dieſer Fuͤrſchrifft keinen Eintrag, den er ſich im Nahmen gewiſſer poetiſchen Freygeiſter machet. Pictoribus atque Poetis Quidlibet audendi ſemper fuit aequa poteſtas. Denn wie ſchon oben in den Anmerckungen zu der Uberſetzung dieſer Stelle erinnert worden, ſo beantwortet er denſelben gleich darauf ſo, daß er die Freyheit im Dichten in gebuͤh- rende Graͤntzen einſchraͤncket. Scimus,

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Zitationshilfe: Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen. Leipzig, 1730, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gottsched_versuch_1730/192>, abgerufen am 28.03.2024.