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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Zweiter Abschnitt.
Die Prädisposition zu psychischen Krankheiten.
§. 66.

Erwägt man die ausserordentliche Häufigkeit aller der schädlichen
Einflüsse, welche als Ursachen der Geisteskrankheiten angegeben wer-
den und ihre doch verhältnissmässig seltene Entstehung aus densel-
ben, so wird man mit Nothwendigkeit zur Annahme geführt, dass
es gewisser vorbereitender Umstände bedürfe, damit in den einzelnen
Fällen überhaupt Erkrankung und gerade diese Erkrankung eintrete,
dass eine gewisse Empfänglichkeit und Disposition zu solchen Krank-
heiten den -- zuweilen wenig intensiven -- erregenden Ursachen
entgegenkommen müsse. In der That ist man beim jetzigen Zustande
der Wissenschaft bei den meisten Krankheiten des Nervensystems zu
einer solchen Annahme genöthigt. Unzählig sind die Fälle von Ver-
letzung, und nur selten folgt auf sie Tetanus; eine Menge Kinder
leiden an Würmern, und nur wenige verfallen in convulsivische Zu-
stände; viele Menschen leben unter Umständen, denen eine kräftige
Wirkung auf die Ausbildung psychischer Krankheiten zuerkannt werden
muss, und nur wenige unter ihnen werden wirklich geisteskrank.
Will man nun bei jenen Neurosen zur Erklärung eben eine -- nicht
näher zu bestimmende -- besondere Disposition des Nervensystems
annehmen, so hat man freilich nur ein leeres Wort für eine ganz
unbekannte Sache. Genauere Untersuchungen gestatten hier aber
doch zuweilen eine Einsicht in die näheren Verhältnisse dieser Dis-
position. Man weiss z. B. dass Tetanus in heissen Ländern leichter
auf Verletzungen folgt, als in unserm Klima, dass sein Zustande-
kommen durch gleichzeitige Erkältungen oder psychische Reize be-
günstigt wird und dergl., und so sind auch für das Irresein eine
Reihe von Momenten bekannt, denen erfahrungsmässig ein vorbereiten-
der und begünstigender Einfluss auf seine Entstehung zugeschrieben
werden muss. Es hat nun die Lehre von der Prädisposition zu den
Geisteskrankheiten einestheils jene entfernteren, im Grossen wir-
kenden
, nur statistisch erweisbaren, und in ihren einzelnen Wir-
kungsarten ganz unerforschlichen Verhältnisse der Nationalität, des
Klimas, der Jahreszeiten, des Geschlechts, Lebensalters, der allgemeinen
Standesunterschiede zu betrachten und deren Bedeutung für die
Entstehung dieser Krankheiten zu würdigen. Andrerseits ist, neben
dieser allgemeinen, auch die individuelle Prädisposition, und zwar

Zweiter Abschnitt.
Die Prädisposition zu psychischen Krankheiten.
§. 66.

Erwägt man die ausserordentliche Häufigkeit aller der schädlichen
Einflüsse, welche als Ursachen der Geisteskrankheiten angegeben wer-
den und ihre doch verhältnissmässig seltene Entstehung aus densel-
ben, so wird man mit Nothwendigkeit zur Annahme geführt, dass
es gewisser vorbereitender Umstände bedürfe, damit in den einzelnen
Fällen überhaupt Erkrankung und gerade diese Erkrankung eintrete,
dass eine gewisse Empfänglichkeit und Disposition zu solchen Krank-
heiten den — zuweilen wenig intensiven — erregenden Ursachen
entgegenkommen müsse. In der That ist man beim jetzigen Zustande
der Wissenschaft bei den meisten Krankheiten des Nervensystems zu
einer solchen Annahme genöthigt. Unzählig sind die Fälle von Ver-
letzung, und nur selten folgt auf sie Tetanus; eine Menge Kinder
leiden an Würmern, und nur wenige verfallen in convulsivische Zu-
stände; viele Menschen leben unter Umständen, denen eine kräftige
Wirkung auf die Ausbildung psychischer Krankheiten zuerkannt werden
muss, und nur wenige unter ihnen werden wirklich geisteskrank.
Will man nun bei jenen Neurosen zur Erklärung eben eine — nicht
näher zu bestimmende — besondere Disposition des Nervensystems
annehmen, so hat man freilich nur ein leeres Wort für eine ganz
unbekannte Sache. Genauere Untersuchungen gestatten hier aber
doch zuweilen eine Einsicht in die näheren Verhältnisse dieser Dis-
position. Man weiss z. B. dass Tetanus in heissen Ländern leichter
auf Verletzungen folgt, als in unserm Klima, dass sein Zustande-
kommen durch gleichzeitige Erkältungen oder psychische Reize be-
günstigt wird und dergl., und so sind auch für das Irresein eine
Reihe von Momenten bekannt, denen erfahrungsmässig ein vorbereiten-
der und begünstigender Einfluss auf seine Entstehung zugeschrieben
werden muss. Es hat nun die Lehre von der Prädisposition zu den
Geisteskrankheiten einestheils jene entfernteren, im Grossen wir-
kenden
, nur statistisch erweisbaren, und in ihren einzelnen Wir-
kungsarten ganz unerforschlichen Verhältnisse der Nationalität, des
Klimas, der Jahreszeiten, des Geschlechts, Lebensalters, der allgemeinen
Standesunterschiede zu betrachten und deren Bedeutung für die
Entstehung dieser Krankheiten zu würdigen. Andrerseits ist, neben
dieser allgemeinen, auch die individuelle Prädisposition, und zwar

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[101/0115] Zweiter Abschnitt. Die Prädisposition zu psychischen Krankheiten. §. 66. Erwägt man die ausserordentliche Häufigkeit aller der schädlichen Einflüsse, welche als Ursachen der Geisteskrankheiten angegeben wer- den und ihre doch verhältnissmässig seltene Entstehung aus densel- ben, so wird man mit Nothwendigkeit zur Annahme geführt, dass es gewisser vorbereitender Umstände bedürfe, damit in den einzelnen Fällen überhaupt Erkrankung und gerade diese Erkrankung eintrete, dass eine gewisse Empfänglichkeit und Disposition zu solchen Krank- heiten den — zuweilen wenig intensiven — erregenden Ursachen entgegenkommen müsse. In der That ist man beim jetzigen Zustande der Wissenschaft bei den meisten Krankheiten des Nervensystems zu einer solchen Annahme genöthigt. Unzählig sind die Fälle von Ver- letzung, und nur selten folgt auf sie Tetanus; eine Menge Kinder leiden an Würmern, und nur wenige verfallen in convulsivische Zu- stände; viele Menschen leben unter Umständen, denen eine kräftige Wirkung auf die Ausbildung psychischer Krankheiten zuerkannt werden muss, und nur wenige unter ihnen werden wirklich geisteskrank. Will man nun bei jenen Neurosen zur Erklärung eben eine — nicht näher zu bestimmende — besondere Disposition des Nervensystems annehmen, so hat man freilich nur ein leeres Wort für eine ganz unbekannte Sache. Genauere Untersuchungen gestatten hier aber doch zuweilen eine Einsicht in die näheren Verhältnisse dieser Dis- position. Man weiss z. B. dass Tetanus in heissen Ländern leichter auf Verletzungen folgt, als in unserm Klima, dass sein Zustande- kommen durch gleichzeitige Erkältungen oder psychische Reize be- günstigt wird und dergl., und so sind auch für das Irresein eine Reihe von Momenten bekannt, denen erfahrungsmässig ein vorbereiten- der und begünstigender Einfluss auf seine Entstehung zugeschrieben werden muss. Es hat nun die Lehre von der Prädisposition zu den Geisteskrankheiten einestheils jene entfernteren, im Grossen wir- kenden, nur statistisch erweisbaren, und in ihren einzelnen Wir- kungsarten ganz unerforschlichen Verhältnisse der Nationalität, des Klimas, der Jahreszeiten, des Geschlechts, Lebensalters, der allgemeinen Standesunterschiede zu betrachten und deren Bedeutung für die Entstehung dieser Krankheiten zu würdigen. Andrerseits ist, neben dieser allgemeinen, auch die individuelle Prädisposition, und zwar

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/115>, abgerufen am 28.03.2024.