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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Die nervöse Constitution.
Inconsequenz des Wollens, Energielosigkeit des ganzen Strebens mit
hastigen und wechselnden Begehrungen. Die Intelligenz selbst zeigt
dann oft die gleiche Beschaffenheit; es sind diess jene zuweilen leb-
haften, schillernden Köpfe, denen es aber an Tiefe und Ausdauer
fehlt, die nichts geistig durchführen, weil sie sich zu allem als Dilet-
lanten verhalten, bei lebhafter Phantasie jene mittelmässigen, aber
baroken Musiker und Poeten oder jene missrathenen Universalgenies,
die bei einer gewissen Raschheit und Vielfältigkeit des Denkens nie
Sammlung und Ruhe zu etwas Tüchtigem finden konnten. Erkranken
solche Menschen am Ende an Irresein, so findet man darin eine
Bestätigung des Satzes, dass, nur wer einen rechten Verstand gehabt
habe, ihn verlieren könne, während in der That eine wirklich kräftige
Entwickelung und Durchbildung der Intelligenz das Irrewerden keines-
wegs begünstigt, sondern ihm entschieden hinderlich ist.

Auf psychischem Gebiete nun sind die nächsten Folgen, die äusseren Erschei-
nungsweisen der zu hohen Reizbarkeit, der reizbaren Schwäche, (Vgl. p. 44.) --
sehr verschieden; viele dieser Erscheinungen lassen sich aber zunächst auf eine
grössere Geneigtheit zu psychischem Schmerz zurückführen; bei der grösseren Aus-
breitung der Erschütterungskreise wird das psychische Gleichgewicht eher gestört,
das Ich leichter afficirt, daher überhaupt die leichtere Angegriffenheit und grössere
Kränkbarkeit solcher Individuen, welche sich nun bald ungeduldig aufbrausend,
unduldsam gegen Widerspruch, aggressiv gegen Andere verhalten, bald, den
psychischen Eindrücken ausweichend, sich spröde in sich selbst zurückziehen,
und unfähig, ihre Gemüthsinteressen durch die That zu befriedigen, die Wolke
der Phantasie umarmen, in deren Besitz ihnen dann die Welt gemein erscheint
und sie sich zu gut und edel für dieselbe dünken. So kommen verschiedene
Aeusserungsweisen derselben Grundzustände heraus, die indessen im Allgemeinen
darin übereinstimmen, dass das Missverhältniss der Reaction zu den Einwirkungen
bei höherem Grade als Ueberspanntheit und Uebertriebenheit erscheint, durch die
das Individuum mit seinen Launen und oft unerwartet wechselnden Reactionsweisen
aus der Linie tritt und in der Welt für ein Original, einen Sonderling gilt.
Solche Menschen zeigen zuweilen ängstliche Scrupulositäten und kleinliche Pe-
danterie (nicht ganz selten mit mechanischem Talent verbunden); anderemale
Leichtsinn, Unordnungen, Unbestimmtheiten des Denkens und Handelns, bald Kälte
und Apathie, bald excentrische Heiterkeit, bald Unentschlossenheit, bald Verwe-
genheit, höchsten Eigensinn oder stete Veränderlichkeit, Niedergeschlagenheit
oder Enthusiasmus, immer aber bei aller Mannigfaltigkeit der Charaktere und der
Bildungsstufen allzuheftige, andersartige und wegen des Widerspruchs mit dem
Verhalten des Durchschnitts-Menschen, grillenhaft erscheinende Reactionsweisen.

§. 74.

Solche psychische Dispositionen kommen unzweifelhaft angeboren,
und namentlich angeerbt, sozusagen häufig eben als Träger der Here-
dität des Irreseins, vor, und geben sich dann schon frühe, im Kreise

Die nervöse Constitution.
Inconsequenz des Wollens, Energielosigkeit des ganzen Strebens mit
hastigen und wechselnden Begehrungen. Die Intelligenz selbst zeigt
dann oft die gleiche Beschaffenheit; es sind diess jene zuweilen leb-
haften, schillernden Köpfe, denen es aber an Tiefe und Ausdauer
fehlt, die nichts geistig durchführen, weil sie sich zu allem als Dilet-
lanten verhalten, bei lebhafter Phantasie jene mittelmässigen, aber
baroken Musiker und Poeten oder jene missrathenen Universalgenies,
die bei einer gewissen Raschheit und Vielfältigkeit des Denkens nie
Sammlung und Ruhe zu etwas Tüchtigem finden konnten. Erkranken
solche Menschen am Ende an Irresein, so findet man darin eine
Bestätigung des Satzes, dass, nur wer einen rechten Verstand gehabt
habe, ihn verlieren könne, während in der That eine wirklich kräftige
Entwickelung und Durchbildung der Intelligenz das Irrewerden keines-
wegs begünstigt, sondern ihm entschieden hinderlich ist.

Auf psychischem Gebiete nun sind die nächsten Folgen, die äusseren Erschei-
nungsweisen der zu hohen Reizbarkeit, der reizbaren Schwäche, (Vgl. p. 44.) —
sehr verschieden; viele dieser Erscheinungen lassen sich aber zunächst auf eine
grössere Geneigtheit zu psychischem Schmerz zurückführen; bei der grösseren Aus-
breitung der Erschütterungskreise wird das psychische Gleichgewicht eher gestört,
das Ich leichter afficirt, daher überhaupt die leichtere Angegriffenheit und grössere
Kränkbarkeit solcher Individuen, welche sich nun bald ungeduldig aufbrausend,
unduldsam gegen Widerspruch, aggressiv gegen Andere verhalten, bald, den
psychischen Eindrücken ausweichend, sich spröde in sich selbst zurückziehen,
und unfähig, ihre Gemüthsinteressen durch die That zu befriedigen, die Wolke
der Phantasie umarmen, in deren Besitz ihnen dann die Welt gemein erscheint
und sie sich zu gut und edel für dieselbe dünken. So kommen verschiedene
Aeusserungsweisen derselben Grundzustände heraus, die indessen im Allgemeinen
darin übereinstimmen, dass das Missverhältniss der Reaction zu den Einwirkungen
bei höherem Grade als Ueberspanntheit und Uebertriebenheit erscheint, durch die
das Individuum mit seinen Launen und oft unerwartet wechselnden Reactionsweisen
aus der Linie tritt und in der Welt für ein Original, einen Sonderling gilt.
Solche Menschen zeigen zuweilen ängstliche Scrupulositäten und kleinliche Pe-
danterie (nicht ganz selten mit mechanischem Talent verbunden); anderemale
Leichtsinn, Unordnungen, Unbestimmtheiten des Denkens und Handelns, bald Kälte
und Apathie, bald excentrische Heiterkeit, bald Unentschlossenheit, bald Verwe-
genheit, höchsten Eigensinn oder stete Veränderlichkeit, Niedergeschlagenheit
oder Enthusiasmus, immer aber bei aller Mannigfaltigkeit der Charaktere und der
Bildungsstufen allzuheftige, andersartige und wegen des Widerspruchs mit dem
Verhalten des Durchschnitts-Menschen, grillenhaft erscheinende Reactionsweisen.

§. 74.

Solche psychische Dispositionen kommen unzweifelhaft angeboren,
und namentlich angeerbt, sozusagen häufig eben als Träger der Here-
dität des Irreseins, vor, und geben sich dann schon frühe, im Kreise

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[118/0132] Die nervöse Constitution. Inconsequenz des Wollens, Energielosigkeit des ganzen Strebens mit hastigen und wechselnden Begehrungen. Die Intelligenz selbst zeigt dann oft die gleiche Beschaffenheit; es sind diess jene zuweilen leb- haften, schillernden Köpfe, denen es aber an Tiefe und Ausdauer fehlt, die nichts geistig durchführen, weil sie sich zu allem als Dilet- lanten verhalten, bei lebhafter Phantasie jene mittelmässigen, aber baroken Musiker und Poeten oder jene missrathenen Universalgenies, die bei einer gewissen Raschheit und Vielfältigkeit des Denkens nie Sammlung und Ruhe zu etwas Tüchtigem finden konnten. Erkranken solche Menschen am Ende an Irresein, so findet man darin eine Bestätigung des Satzes, dass, nur wer einen rechten Verstand gehabt habe, ihn verlieren könne, während in der That eine wirklich kräftige Entwickelung und Durchbildung der Intelligenz das Irrewerden keines- wegs begünstigt, sondern ihm entschieden hinderlich ist. Auf psychischem Gebiete nun sind die nächsten Folgen, die äusseren Erschei- nungsweisen der zu hohen Reizbarkeit, der reizbaren Schwäche, (Vgl. p. 44.) — sehr verschieden; viele dieser Erscheinungen lassen sich aber zunächst auf eine grössere Geneigtheit zu psychischem Schmerz zurückführen; bei der grösseren Aus- breitung der Erschütterungskreise wird das psychische Gleichgewicht eher gestört, das Ich leichter afficirt, daher überhaupt die leichtere Angegriffenheit und grössere Kränkbarkeit solcher Individuen, welche sich nun bald ungeduldig aufbrausend, unduldsam gegen Widerspruch, aggressiv gegen Andere verhalten, bald, den psychischen Eindrücken ausweichend, sich spröde in sich selbst zurückziehen, und unfähig, ihre Gemüthsinteressen durch die That zu befriedigen, die Wolke der Phantasie umarmen, in deren Besitz ihnen dann die Welt gemein erscheint und sie sich zu gut und edel für dieselbe dünken. So kommen verschiedene Aeusserungsweisen derselben Grundzustände heraus, die indessen im Allgemeinen darin übereinstimmen, dass das Missverhältniss der Reaction zu den Einwirkungen bei höherem Grade als Ueberspanntheit und Uebertriebenheit erscheint, durch die das Individuum mit seinen Launen und oft unerwartet wechselnden Reactionsweisen aus der Linie tritt und in der Welt für ein Original, einen Sonderling gilt. Solche Menschen zeigen zuweilen ängstliche Scrupulositäten und kleinliche Pe- danterie (nicht ganz selten mit mechanischem Talent verbunden); anderemale Leichtsinn, Unordnungen, Unbestimmtheiten des Denkens und Handelns, bald Kälte und Apathie, bald excentrische Heiterkeit, bald Unentschlossenheit, bald Verwe- genheit, höchsten Eigensinn oder stete Veränderlichkeit, Niedergeschlagenheit oder Enthusiasmus, immer aber bei aller Mannigfaltigkeit der Charaktere und der Bildungsstufen allzuheftige, andersartige und wegen des Widerspruchs mit dem Verhalten des Durchschnitts-Menschen, grillenhaft erscheinende Reactionsweisen. §. 74. Solche psychische Dispositionen kommen unzweifelhaft angeboren, und namentlich angeerbt, sozusagen häufig eben als Träger der Here- dität des Irreseins, vor, und geben sich dann schon frühe, im Kreise

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/132>, abgerufen am 28.03.2024.